Die Summe der Teile ist sicherlich nicht immer das Ganze, aber es sind Teile, die zum Ganzen beitragen ...
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Mosaiksteine 1
Da war einmal jener Schulkamerad. Täglich trafen wir uns als Fahrschüler in den Nahverkehrszügen. Er war Halbwaise. Sein Stiefvater hatte jedoch offensichtlich mehr Interesse und Freude an seiner leiblichen Tochter. Jener großgewachsene Junge war ein relativ guter Schüler. Vor allem machte er den Lehrern nie auch nur irgendwelche Schwierigkeiten. Er verließ die Schule mit Abitur, um dann zu studieren. Ich verließ sie vorzeitig, um eine Lehre zu absolvieren, vor allem um Unabhängigkeit vom Elternhaus leben zu können.
Eigentlich war ich gar nicht so lange mit jenem Mitschüler zusammen. Sozusagen ein Zwischenabschnitt nach meinem langjährigen Internatsaufenthalt in der bayerischen Bergenwelt und dem darauf folgenden eher kurzem Interludium an einem Kleinstadtrealgymnasium, ehe ich zu dem Großstadtgymnasium wechselte. Der Mitschüler lud mich seinerzeit manchmal zu sich nach Hause ein. Er hatte ein mittelgroßes Zimmer in einem großen Haus, das Zimmer war überwiegend sein wichtigster Aufenthaltsort, sein Domizil, wie er es zu nennen pflegte. Es war ganz im Gegensatz zu meinem Zimmer im Elternhaus voller Bücher. Interessanter, weil neu für mich, war aber seine umfangreiche Jazzplattensammlung. Zwei dicke Alben voller 45er und EPs, neben einigen Langspielplatten!
Kurz: Jener Mitschüler führte mich in die Jazzmusik ein, ein Musikstil dem ich bis dato eher ablehnend gegenüber stand, vor allem wohl deshalb, weil ich darüber zu wenig wußte. Insofern lehrte mich diese Begegnung mit Jazz zweierlei: erstens zu sehen, daß ein Sammelbegriff häufig eher wenig aussagt über die in ihm verborgene Vielfalt und zweitens, daß man sich vor einem Urteil besser erst einmal hinreichend Information verschaffen sollte. Durch jenen eigentlich stets recht netten Mitschüler erfuhr ich die Feinheiten des Jazz, er war offensichtich ein Kenner der Materie, vor allem aber, war er voller Begeisterung ob seines Hobbys. Durch ihn lernte ich den sagenhaften Pinetop Smith mit seinem Boogie Woogie kennen, über ihn kam ich zu Chick Webb, natürlich auch zu Glenn Miller, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Fasziniert war ich auch davon, wie er sein Hobby intensiv und mit großer Freude betrieb.
Wir verloren uns freilich sehr bald aus den Augen. Ich ging meinen Weg, er den seinen. Als ich ihn Jahre später eher zufällig wieder einmal traf, brachte ich die Rede unter anderem auf die schönen Jazz-Nachmittage. Sehr erstaunt war ich dann allerdings schon, denn er bestritt vehement, daß er jemals etwas mit Jazz zu tun gehabt, daß er nie und nimmer Jazzplatten gekauft, nie welche besessen hätte.
Viel Erfahrung hatte ich damals allerdings mit derartiger Verdrängungsakrobatik noch nicht sammeln können. Nur ein klein wenig. Kaum nennenswert. Deshalb dürfte meine damalige Überraschung, oder genauer: mein Entsetzen, den meisten Lesern nachvollziehbar erscheinen. Dabei war er bei der Begegnung durchaus freundlich und interessiert, bemühte sich offensichtlich keine Fremdheit aufkommen zu lassen. Ich habe mich dann allerdings recht bald verabschiedet, denn meine Lust, sich mit derartigen Verdrehungen von Wirklichkeit auseinanderzusetzen, hielt sich (nicht nur damals!) sehr in Grenzen ...
Ich traf ihn dann aber wieder, einige Jahre später an der Universität (ich hatte mittlerweile das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt). Er studierte Geschichte. Gewiß ein ehrenwertes Studium, interessant allemal. Aber es gab recht bald nach dieser Begegnung so eine Arte Neuauflage der "Jazz-Story": bei einem Ferienjob erfuhr ich, daß seine Mutter überall herumerzählte, ihr Sohn studiere Medizin und würde bald Arzt sein. Davon war freilich kein einziges Wörtchen wahr. Na denn! Lust, das mit ihm bei einer weiteren Begegnung, zufällig und von mir gewiß nicht gesucht: in der Mensa, zu besprechen hatte ich überhaupt keine. Jene Welt der Lüge war mir zuwider. Ich konnte schon damals derartiges Verhalten nur als das sehen, was ich auch heute noch als Urteil fällen würde: eine eklatante Mischung von Dummheit und Minderwertigkeitsgefühlen. Keine Basis für ein Gespräch, jedenfalls nicht für mich. Schließlich war und bin ich kein Therapeut. Wollte es auch nie sein, eben weil ich keine Lust hätte, mich mit derartigen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, sie gar noch ernst nehmen zu müssen.
Er wollte in den diplomatischen Dienst, landete dann schließlich im Goethe-Institut und konnte so wenigstens seinen immer wieder geäußerten Traum, das Leben weitestgehend außerhalb von Deutschland zu verbringen, verwirklichen. Ich blieb hier im Lande (von zahlreichen Reisen einmal abgesehen) und versuchte all den Dingen und Personen, die mit Möchtegernstrategien zu tun hatten, möglichst aus dem Wege zu gehen. Jedenfalls war ich zumindest in dem Maße glücklich, daß ich nicht in die "Welt der großen Wörter" schielen mußte, das blieb mir zumindest erspart. Dafür gab es natürlich andere Erfahrungen, Erlebnisse und Auseinandersetzungen. Gute, mittelmäßige und schlechte. Der Mensch übt eben solange er lebt, und das ein jeder auf seine Weise.
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