Essays 2
Achtung: Gekürzt !!!
T H O M A S J. H A R D I N
V O R S I C H T A L L T A G
D R E I S S I G A U F S Ä T Z E
Copyright by Thomas J. Harding
VORWORT
Es neigt sich ein Jahr dem Ende zu; der Volksmund und vor allem seine geldgierigen Ableger würden wohl sagen: es weihnachtet sehr. Leider oder gottseidank (ich bin mir da nicht so sicher, welcher Seufzer der angemessenere ist) kann ich diese Zeit nur mit der fröhlichen Aussicht auf Freizeit empfinden. Die nervenaufreibende Hatz nach Geschenken für Menschen, die man zu lieben vorgibt, bleibt mir erspart. Da auch ich dennoch als Kind dieses unseres Landes Geschäfte zu dieser Zeit betrete, werde ich gleichwohl von den weihnachtlichen Melodien, die da künden: kommt und laßt mir euer Geld in meine Kassen klingen, angeekelt. Wären nicht bereits genügend Risse und Schrunden auf Herz, Leber und Nieren, welchen Schaden könnten die Innereien nähmen! So aber schützt ein harter, vernarbter Panzer weitgehend. Was wir leise sehr oft vernehmen: den Gleichklang der Unaufrichtigkeit, das Siechtum der Hilflosigkeit, das mehr oder weniger tollpatischige Ringen um Gestaltung. Hinter all diesen Drahtseiltänzen verbirgt sich letztlich aber nichts als der schlichte Wunsch nach Leben.
Aber als zeitlebens immer auch schon am Schicksal persönlicher Entwicklungen interessierter Mensch, nehme ich den Jahresablauf und die mir dadurch geschenkte Zeit zum Anlaß, nachzudenken (zum wievielten Mal eigentlich?): über Sinn und Unsinn der Daseinsgestaltung, über Möglichkeiten und Grenzen der Verweigerung gegenüber den vielfältigen und wirklich abscheulichen Impertinenzen, die das zwangsläufige Zusammenleben mit all den vielen schönen und unschönen Zweibeinern erzeugt. Eine sehr lohnende Aufgabe, ergeben sich doch dadurch wertvolle Hinweise zur Vermeidung von langsam tötenden Unannehmlichkeiten. Anregungen, im Kleinen den Baustein des Großen zu spüren. Wegzeige, im Einfachen bereits des Rätsels Lösungen aufzuspüren, welche letztlich in ihrer Alltäglichkeit leider nur allzu oft ein verborgenes Dasein führen. Diese bleiben zumeist jedoch nur deshalb versteckt, weil es an Lust und Mühe fehlt, sie wahrzunehmen.
Mögen andere ihre Häuser immer höher bauen, ihre Karrieren ins Endlose planen - mein Haus wird wohl weiterhin nur aus den Gedanken und Gefühlen bestehen, die nicht ablenken, die mich sehen lassen und die Lust am Verweilen nicht als Vorwurf der Untätigkeit sondern als wesentliche Aktivität gelten lassen.
Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie die eigenen Gedanken und Beobachtungen oft blitzschnell ganze Konzepte neu schaffen und längst Durchdachtes wieder reorganisieren. Ich hätte früher nie gedacht, daß oft eine einzige Beobachtung zu einer Geschichte werden kann.
Ich muß an die zwei Schüler einer siebten Hauptschulklasse denken, die mir erzählten, wie sie einem Betrunkenen auf einer Parkbank versprochen hatten, ihm Bier zu besorgen, seine zwanzig Mark nahmen und auf Nimmerwiedersehen verschwanden.
Oder man stelle sich einmal eine von ihrer Körperfigur her sexuell durchaus anregende Frau vor, die jedoch hemmungslos in ihrer Nase popelt bis sich die Flügel bäumen und es obendrein noch schafft, beim gemeinsamen Essen die Verbindung zwischen Mund und Gabelzinken durch einen fetten Speichelfaden aufrecht zu erhalten. Ich räume ein, letztere Beobachtung war nur deshalb gerade noch zu ertragen, weil ich längst fertig gegessen hatte.
Da wäre der von mir so betitelte Ferienzimmermietbaron aus der geliebten Alpenrepublik, der durch mehr als merkwürdig erscheinendes Verhalten uns wie ein Blutsauger behandelte und dabei eine widersprüchliche Tollpatschigkeit an den Tag legte; das Zimmer haben wir dennoch genommen (oft bleibt eben nicht viel Wahl): am nächsten Tag sah ich im Frühstückszimmer den mir entgegengerichteten Zeigefinger.
Oder wie ist es mit dem Rektor, der warmherzig ein Schuljahr in einer Konferenz beendet und ein neues mit gleichem Pathos nach -wie immer- allzu kurzen Ferien beginnt?
Ist es der saturierte, durch nichts zu Selbstzweifeln zu bringende Kollege, ist es die alleinerziehende Mutter, einem freien Liebesleben nicht gerade abhold, der es mit dreißig Jahren plötzlich einfällt, ihrer Mutter deshalb Vorwürfe zu machen, weil sie mit fünfzehn alles durfte und dadurch angeblich das weitere Leben erschwert wurde, ist es die -austauschbare- Ökomamsell, die plötzlich inmitten ihres eigenen Sauhaufens den Umweltschutz propagiert und Rettungsleinen zu werfen glaubt, ist es der letzte Gang des Generals auf dem Weg zur ewigen Armee, ist es ein an der Klosterschule (im Jahre des Herrn 1994!) eingesetztes Komitee, dessen Aufgabe es ist, moderne Inquisition zu betreiben oder ist es nur die Beobachtung eines Menschen, der auf gewissenhafteste Art und Weise Herr und Meister über Organisationsabläufe zur biologisch-gerechten Fäkalienbeseitigung ist: immer möchte man schreiben und gleichzeitig ausrufen: Vorsicht! Alltag!
Begleiten wir professorale Liebe, unerwartete Philosophie eines Entlassenen, die Schimpfereien eines wohl nicht nur politisch Unzufriedenen, den Freigang eines leibhaftigen Schweines, die Versuchungen der unbekannten Stimme. Lüften wir ein wenig das Inkognito eines doch recht erfolgreichen Schriftstellers und geben wir uns bescheiden einer anderen Form der Zeitenwende hin. Hören wir hinein, ganz kurz nur, wie es sich bei derartigen Geschichten geziemt, wie der abverlangten Pflicht nach Weiterbildung entsprochen wird und warum man zum Weihnachtsfeste die Geschenke vor allem anderem Zeremoniell auspacken sollte.
Der Beispiele gäbe es noch einige, aber etwas Geheimnis, etwas Spannung muß sein... Und die Zukunft harrt mit fruchtbarer Aussicht auf noch viel, viel mehr.
Hiermit sei das Gatter geöffnet, das über holprige Wege übergroßen Augen und dem Hören verpflichteten Ohren, vor allem wachen, interessierten als auch phantasiebegabten Geistern, Möglichkeiten des Innewerdens bieten könnte. Wir wollen uns nicht erschrecken lassen, aber vor allem keineswegs mitschwimmen, wenn es immer wieder warnt: Vorsicht! Alltag!
Der letzte Aufbruch
Rainer Hader sitzt an seinem Schreibtisch. Seit Monaten, wenn nicht gar seit Jahren sein wirkliches Zuhause. Dies ohne jegliche Bewertung hinsichtlich Gemütlichkeit oder Geborgenheit. Er sitzt, weil er nicht anders kann.
Seit Tagen ist er noch tiefer als er es sich jemals vorstellen konnte mit seinem Computer beschäftigt. Eigentlich hat er schon vor langer Zeit einen Pakt mit diesem Produkt wahrer zivilisatorischer Errungenschaft geschlossen: Hingabe gegen Zeit. So hatte Hader es in seinen Vorstellungen ausgemalt; Technik als Hilfe zur Daseinsgestaltung. Es gab ohnehin keine Möglichkeit des Entrinnens. Vom Berufsalltag über Bankgeschäfte und Behördenkram bis hin zum Freizeitvergnügen - alles läuft immer mehr technisiert ab. Kreditkartenstolz! Wer hat mehr davon in seiner Brieftasche?
Manchmal stellt er sich Absurditäten vor. So zum Beispiel die Kreditkarte fürs Bahnhofsklo. Wäre ja auch hygienisch, von der Vereinfachung ganz zu schweigen. Dieses ewige Gekrame nach Kleingeld inmitten dieser düsteren Duftglocke. Eklig. Die Vorstellung, durch welche Finger all die Münzen gehen. Kreditkartenabwicklung sozusagen als entscheidender Beitrag zur Gesunderhaltung.
Wie gesagt: Hingabe gegen Zeitgewinn. Die Hingabe leistet Hader wahrlich. Ganze Zyklen von Jahreszeiten sind mittlerweile unwiederbringlich entschwunden. Für immer. Immer ist es ihm noch nicht gelungen, die Kompliziertheit seiner Alltagswelt zu lösen, den Knoten auf dem Weg in die Einfachheit zu zerschlagen. Er fühlt sich betrogen. Zeit geopfert, nichts dafür gewonnen. Ausweglos verstrickt im Labyrinth seiner Vorstellungen. Tiefe, desillusionierende Gefühle greifen in seiner Innerlichkeit, wälzen gleich Lawinen über Schrunden zerschundenen Innenlebens. Nichts wird vereinfacht, sondern neue Probleme drängeln sich auf dem Marktplatz beschränkter Möglichkeit.
Abstürze, Irrungen, Wirrungen - weder die Programme noch die mit ihnen in bösartiger Allianz agierende Hardware scheinen seinen Zielen gewogen zu sein. Statt Arbeit und Kummer zu ersparen, erzeugen sie neue Plag. Zusätzlich. Nacht wird zum Tag. Künstlichkeiten. Entqualifizierte Zeit. Hader gehört nicht mehr sich selbst. Oft vergißt er sogar das Essen. Läßt ihn sein immer drohender knurrender Magen keine Wahl mehr, stiehlt Hader sich einige Sekunden, um in der Küche schnell zwei bis drei trockene Scheiben Brot mit Kaufhaussalami und Supermarktkäse zu belegen. Dazu schenkt er sich in ein seit Tagen immer wieder kurz ausgeschwenktes Glas irgendein greifbares Getränk, stellt dies alles auf ein altes Mensatablett aus geruhsameren Studientagen (wo die Welt noch in Ordnung schien) und verkrampft sich wieder auf dem Stuhl vermeintlicher Pflicht.
Der innere Kampf gerät immer mehr zur Qual. Hader kann nicht entscheiden, ob Hilflosigkeit oder Lustlosigkeit aufkommen. Vielleicht auch eine lähmende Mischung aus beidem. Sozusagen ein Überdrußcocktail. Jedenfalls spürt er deutlich immer mehr das Vereinnahmtwerden, den aufge-zwungenen Rhythmus der Beschäftigung. Was anfänglich Euphorie gewesen ist, entwickelt sich immer stärker zu neuer Einsicht: daß jegliche vorgeblich als segensreiche Erleichterung gepriesene Neuerung sehr schnell ihren Pferdefuß präsentiert, sich letzlich als Wegbereiter zu ödem Menschenschicksal enttarnt. Hader erschrickt: er als Neger der Dienstleistungszeit. Sklave. Nicht mehr Freiheit, mehr Sklaverei. Hader steht auf, geht ins Badezimmer und blickt in den Spiegel. Er sucht nach Spuren seines Sklavendaseins in den Gesichtszügen. Entdeckt nach unten gezogene Falten um die Mundwinkel und an beiden Ausläufern der Nasenwände. Soll er mit seinem Schicksal hadern? Er streift die Falten glatt, sie kommen sofort wieder. Mit den Fingerspitzen streicht er Schwefelwasser auf die Gesichts-haut. Irgendwo hat er einmal gelesen, Schwefel wäre gut für die Haut. Verjüngungswahn.
Seine Gedanken von vorhin bohren erneut aus dem Innern. Vor allem der Negervergleich. Er spürt, wie rötende Wärme sich über sein Gesicht legt. Früher hätte er niemals derartigen Vergleich angestellt. Zu rassistisch wäre er sich vorge-kommen. Viel zu provinziell. Er spürt: es ist nur sein Bildnis in der Vergangenheit, das ihn stört. Die verlorene Rolle. Ansonsten kann er mit seinem spontanen Erschrecken leben. Die wärmende Röte ist schnell wieder aus seinem Gesicht verschwunden. Was soll das alles denn auch? Schließlich waren die Neger eben nun einmal Sklaven. Was kann er denn dafür? Und wenn er sich als solcher fühlt - er beschließt: der Negervergleich ist angemessen. Hat nichts mit Provinzionalität zu tun. Schon gar nichts mit Rassismus. Er hat sie ja nicht versklavt. Vielmehr ist er selbst versklavt. Versklavt von Ausuferungen, für die er - so findet er - nicht verantwortlich ist. Ein Opfer. Heute. Wie damals die Neger. Schlicht ein bemitleidenswertes Opfer. Hader spürt Hilflosigkeit. Das macht ihn wütend. Er zieht eine Fratze in den Spiegel und erfreut sich über die gelungene Häßlichkeit. Er geht zurück an seinen Arbeitstisch. Spricht mit dem Computer. Sagt was von Ver-stehenkönnen, wenn Leute mutwillig technische Geräte zerstören. Meint zusätzlich: zerstören wäre jedoch nicht genug. Würde zu wenig ändern. Er erinnert sich an andere Gespräche mit seinem Computer. Friedvollere, emotionalere. So sagte er des öftern zu dem gleichwohl stummbleibenden Kasten: Komm, jetzt kann ich endlich in Frieden computern. Das klang dann beinahe zärtlich. Zwei Lebenspartner.
Wie Rainer nun so wieder vor ihm sitzt, stellt er - wie so oft in seinem Leben - die Nützlichkeitsfrage. Hader über-legt, was er Nützliches mit dem Gerät anstellen könnte? Etwas mit sofortigen Ergebnissen. Etwas, das der Plackerei einen Sinn verleiht. Teleologische Inspiration - danach sucht er. Nicht sich einfach mehr oder weniger willenlos dem Gerät und seiner Umwelt ausliefern.
Kein kampfloses Überlassen. Aufbegehren! Nein, auch dies wäre zu viel. Wäre falsch. Keine falschen Prioritäten! Nicht ein Übermaß an Aufmerksamkeit. Das stärkt den Gegner. Zu schwächen als Zielsetzung.
Nicht mehr das Gespräch über Gigantomanien: Megabytes, Gigabytes, Nanosekunden, schwindelnde Prozessoren-taktungen...
Ihm fällt ein: Gigabytes wären wirklich notwendig, wollte man all den erlebten und erlittenen Schwachsinn aller Lebensbereiche abspeichern. Kurz ist Hader von diesem Ge-danken fasziniert. Er stellt sich vor: dann diesen gesamten Wust mit einem Löschbefehl tilgen. Die gesamte Lebens-festplatte reinigen. Wie berauschend Gedanken sein können!
Doch wer schreibt schon gerne seine ganze Lebensbilanz nieder? Wer setzt sich diesem Zwang zur Erinnerung aus? Allenfalls ein Masochist. Weg mit diesen Wunschphantasien! Nanosekunden können nicht dazu beitragen, gestohlene Zeit zurückzuholen.
Mehr oder weniger abwesend spielt er mit dem Mauszeiger auf der Menüleiste. Landet wie zufällig unter "Bearbeiten" auf dem Balken "Rückgängig machen". Auch hier lügt die Maschine - nichts, was außerhalb ihre bürohaften Blechkarosse liegt, läßt sich zurücknehmen. Aber sie will gaukeln. Täuschungs-monster! Die Wahrheit ist anders. Zeit schreitet unaufhalt-sam. Es gibt kein zurück.
Hader hätte gute Lust, alle Beherrschung aufzugeben und der Maschine einen deftigen Fußtritt zu versetzen. Stattdessen läßt er seine Gedanken in andere Richtung kreisen: Los-reißen von allem Zwang. Er war immer schon zeitweilig Phantast. Tagträumer als Bestimmung? Zumindest jetzt gibt er sich seinen Träumen hin. Vor dunkelndem Bildschirm schläft er ein. Er träumt tatsächlich. Sieht durch nebel-hafte Schleier ferne Gestade; streift durch Wasser und Gestein. Meerjungfern küssen ihn. Jähes Traumende. Geweckt durch Wirklichkeit.
Hader hat eine Idee. Er wird der dumpfen Maschine einen letzten Rest von Sinn verleihen. Keine Bettelbriefe, Beschwerdeschreiben, Berufsvorlagen, Bewerbungen, Absagen, Zusagen, Anfragen und dergleichen mehr. Schon gar nicht mehr diese idiotischen Spiele. Diese Vereinsamungsorgasmen. Ausdruck armseligster Gestaltungsarmut menschlicher Regungen. Abgesangsmelodien.
Er ruft auf: Rahmenfunktion. Umrahmt die Vorlage mit dickem schwarzen Rand. Linienfunktion. Auf der linken Hälfte ein dickes Kreuz. Tiefschwarz. Unübersehbar fett. Rechts daneben: in bunter Farbmischung seine eigene Todesanzeige. Welches Datum soll er wählen? Irgendeines. Der Maschine ist es ohnehin egal. Ihm auch. Also tippt er von Hand (um nicht in standardmäßig vorgegebenen Strukturen zu ersticken):
30. Februar 1996. In leuchtendem Rot.
In hellblauem Ton vor grünem Hintergrund seinen Namen: Rainer Hader.
Ein schlichter Begleittext: Hat hier gelebt und ist nun fortgegangen.
Weil er es plötzlich lustig findet, wird unterhalb des Textes eine Wiese mit Blumen gemalt. Darauf ein grauer Findling. Dahinter ein Hauch von Meeresbrandung.
Hader bestaunt sein Werk und läßt es ausdrucken. Langsam schiebt sich der Bogen aus dem Farbdrucker. Fotoecht. Fast eine Wirklichkeit. Papierrealität.
Hader erstellt eine zweite Todesanzeige. Datiert sie auf zehn Tage früher. Bedauert das Hinwegsaufen von fünftausend Mark wertem Datenverarbeitungsschrott.
Wir lesen: Hingerichtet durch seinen Nutzer unter Ausschluß von Öffentlichkeit, weil verständnislos und uneinsichtig. Der Tod fand durch Entsorgung in einem nichtgenannten Gewässer statt.
Alles fließt. Auch Errungenschaften.
Auch in derartigen Zeiten des Umbruchs behält sich Hader seine anerzogene Gründlichkeit bei. Vor einschneidenden und entscheidenden Ereignissen wird gründlich geplant, sorgfältig gehandelt.
Die Maschine bekommt noch wenige Tage ihr Gnadenbrot. Darf mithelfen, Kündigungen von Versicherungen und diversen Abonnements zu schreiben. Hader bereitet ein Schreiben an seinen Vermieter vor; dieses will er ihm zusammen mit den Schlüsseln als vorletzte Handlung in Form eines Päckchen zukommen lassen.
Bei den Banken löst er alle seine Konten auf und nimmt verbliebenes Geld an sich.
Anschließend meldet er seine beiden Telefone ab (der Computer hatte sein eigenes!).
Den größten Teil der Kleidung wirft er in den Container. "Aktion Hoffnung" steht in großen Buchstaben nüchtern auf dem gelblichen Metallkasten.
Bücher, Zeitschriften, Inhalte zahlreicher Ordner, Papier, Schuhe, Flaschen - es beginnt eine regelrechte Entsorgungsorgie.
Am schwierigsten die Entsorgung des Mobiliars: in nächtlicher Kleinarbeit verteilt er die Teile in weitergelegene Gegenden ruhig schlafender Landschaft. Dabei zeigt er Geschmack. An einem Waldrand, nahe eines Wanderweges, entsteht eine geruhsame Sitzgruppe aus Tisch, zwei Stühlen und einem kleinen Sofa. Daneben ein Schränkchen, gefüllt mit all den nun überflüssig gewordenen Lebensmittelvorräten (zumeist Dosennahrung) und diversen Getränken. Sozusagen eine Oase für erschöpfte Wanderer, ein Waldesrandschlaraffenland, urteilt Hader, seine Arbeit befriedigt betrachtend, lächelnd zu sich selbst. Er ist rundum zufrieden. Der Plan macht Fortschritte.
Die Wohnung wird immer leerer. Die Gardinen und die Vorhänge will er hängen lassen, ebenfalls sollen die Teppiche verbleiben. Gewissermaßen als Vermächtnis. Auch die Küche läßt er unbehelligt. Zu kompliziert erscheint ihm diesbezügliche Aktivität.
Auf die immer gleiche Frage gleiche Antworten: Veränderung steht an. Wenige wundern sich. Zu abgeschlossen und zurückgezogen hat Rainer all die Jahre gelebt. Und obendrein - wer nimmt sich schon noch Zeit und Gelegenheit für Wundern.
Der große Augenblick ist der Abschied von den Gerätschaften, die ihm die Augen öffnen geholfen haben. Sie haben die Konfrontation mit seinem Leben eingeleitet. Echte Trauer befällt ihn bei der Trennung von seinen langjährigen Wegbegleitern. Feierlich fährt er an einen nahegelegenen Fluß und spricht die angemessenen Endzeitpsalmen. Wie es in nächtlichem Gewässer blubbert. Wie plötzliche Unwerte gurgelnd versinken. Es bleibt der Mantel des materiellen Nichts.
Nachdenklich verweilt Hader noch geraume Zeit und blickt in die alles verdeckende Schwärze. Fahles Sternenlicht spiegelt sich im nun ruhig daliegendem Gewässer - ein Stück Feierlichkeit in der Nacht endgültigen Abschieds. Mit nun unentschiedenem Gefühl im Herzen sucht Hader einen schwer zugänglichen Bereich am Flußufer, zwängt sich durch Gestrüpp und schlägt das mitgebrachte Holzkreuz, aufge-zwungenes Symbol bayerischer Mitmenschlichkeit, in den weichen Untergrund. Als er anschließend die vom Computer erstellte Todesanzeige, nun von einem Plastiküberzug geschützt, ins Zentrum heftet, kann er nicht umhin, sich über die Widersinnigkeit zu belustigen: der Computer hat seinen eigenen Untergang (im wahrsten Sinn des Wortes) dokumentiert.
Hader findet einen Briefkasten, der nur dreimal wöchentlich geleert wird. Er berechnet Pünktlichkeit, denkt an alles: Schaltjahr wieder einmal. Am 29. Februar werden sie es wissen. Doch dann ist für ihn alles unumkehrbar. Adressiert seine Todesanzeige an den Arbeitgeber. Mit befriedigendem Gefühl gibt er seine letzte Mitteilung auf. Sie wird ankommen.
So wie auch er ankommen wird! Langsam und genußvoll läßt er die gelbe Klappe schließen, so als müßte er jeden Millimeter einzeln selbst bearbeiten.
Anschließend steigt Hader in seinen Wagen, um hier seinen letzten Weg anzusteuern.
Mit freudigem und bangendem Gefühl zugleich denkt er an die wenige Habe im Kofferraum, mit der er zukünfig wird auskommen können. Er gibt Gas. Es gilt, den letzten Schritt zu tun. Fährt immer schneller. Wird innerlich ruhiger und ruhiger. Sein Ziel: weg von hier, fort von diesen ewigen sinnlosen Wiederholungen - hin zu südlichen Gestaden, in fremdes Land, wo Langsamkeit und Besinnlichkeit nicht als Untugend erlebt werden muß...
BÜRGER K
K geht, da sich nichts, aber auch gar nichts geändert hat, seinen alten Weg. Sein Gang: etwas schleppend, doch noch aufrecht. Sein Blick: müde ausgebrannt. Sein Äußeres: überwiegend ungepflegt, sieht man einmal von sichtbaren Resten einer besseren Vergangenheit ab. Dennoch bewegt er sich im Rahmen des gesellschaftlich Geduldeten. Kurzum: K fällt nicht auf. Er geht einfach, wühlt sich durch triste Massen des Stadtalltags, und - je nach momentaner innerer Verfassung - weicht aus oder rempelt sich vorbei. Aber er geht. K kommt voran. Erreicht endlich sein Zuhause. Stürzt sich in sein Zimmer, so als könnte es ihm schnell noch jemand wegnehmen, besetzen. So wie einen Platz in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die ihm allein schon wegen der erzwungenen penetranten Nähe zu den Zeitgenossen zuwider sind.
Aber das Zimmer gehört ihm, ihm allein. Hier muß er nicht teilen, nicht ertragen, nicht erdulden. So das Gefühl nach dem erfolgreichen Entrinnen aus der Öffentlichkeit. Jetzt ist er also hier. Er schaut sich um, wenngleich es nichts besonderes zu schauen gibt. Steht mehr oder weniger einfach da. Einerseits gerettet, andererseits nun plötzlich diese neue Form von Leere. Der Mantel des Feierabends legt sich über seine Haut, behängt seine Seele. K läßt sich, tief ein- und ausatmend, vor sich hinseufzend, in seinen Korbstuhl fallen. Ein Stück aus alten, und wie er nun meint, freieren Tagen.
K lebt; er atmet, er hat Hunger, er denkt.
Ich stelle mir vor: K erinnert sich. K erinnert sich an seine Jugend, an seine Kindheit. K sieht ein Seil, einen dicken ausgemergelten Balken, einen morschen Halt. Er fühlt einen Körper - am Seil. Tot. Schlaff. Einfach tot.
Sein Innerstes schüttelt K: einfach tot, kein Leben.
K steht auf, zieht den Vorhang vor; er sperrt seine Gedanken aus. Jetzt kann er essen, sich zur Ruhe zwingen. Ruhe, die jene quälende Rastlosikeit aussperrt. Wenigstens für Augenblicke. Diese Hast ist da. Es gibt zwar nichts zu versäumen. K weiß das. Schließlich lebt er lange genug. Im Kopf ist er sich darüber vollkommen im klaren. Aber das Gefühl will einfach nicht auf den Verstand hören. Also: diese Hast ist da, treu, sein ständiger Begleiter. Erneut. Ganz plötzlich. Die Intervalle werden immer kürzer. Unruhe würgt seinen Magen. Erneut bohrt die Vergangenheit sich empor: tot - einfach tot - am Seil - am Balken - so schlaff - so tot - so unausprechlich tot...
Also muß K das Essen verschieben. Er bricht seine diesbezügliche Aktivitäten ab und fällt ermattet wieder in den Korbstuhl zurück.
K wacht auf, räkelt sich, ist wieder Gegenwart, wird ent-rückt, taucht nieder, taucht wieder empor, atmet, spürt, lebt und sticht in die Zukunft, taumelt, stolpert, wankt, stürzt erneut ab. Irgendwie rafft er sich dann doch auf. K wird aktiv. Er sucht nach dem Glas. Sein Blick wendet sich zu einem halbleeren Röhrchen (das wievielte eigentlich?); aber seine Gedanken türmen Hindernisse auf. Denken, denken, martern, zermartern: sein Wunsch malt ein Bild, siegt über die Erinnerung, wird Inhalt, baut ein Stück Gegenwart, skizziert vage Zukunft. Kein Glas! Kein Röhrchen! Kraft kehrt zurück.
K steht auf und stellt das kaum beschmutzte Geschirr der letzten zwei Tage in das Abwaschbecken. Genüßlich und langsam läßt er heißes Wasser darüberlaufen. Erst einmal einweichen, spülen kann er dann später.
So geht K in sein Badezimmer. Es ist klein, jedoch für diese Zwecke wirklich ausreichend. Schließlich wohnt man nicht darin. Zähneputzen, Waschen, ab und zu duschen, sel-ten ein Wannenbad, in dem man ohnehin nur im eigenen Saft dahinbrütet und die Haut sinnlos aufweicht. Dazu bedarf es wirklich keines Tanzsaales! Wenn er in seiner Öde so manchmal in Einrichtungshäusern landet, dort ziellose Be-sichtigungen vornimmt und dann konsequenterweise sich in den Badezimmerabteilungen wiederfindet, ärgert ihn die Größe, die Überflüssigkeit, der sinnlose Luxus. Das Geld könnte man wahrlich edleren Zwecken zuführen. So meint K. Dann stellt er sich die Leute vor, die so einrichten. In Gedanken spielt er. Genau nimmt er die Besucher in Augen-schein und sortiert aus in Käufer und Nichtkäufer. In Gedanken sieht er angezogene und ausgezogene Opfer seiner Phantasie in diesen Riesenbädern sich in allen möglichen und unmöglichen Situationen tummeln.
K geht also in diesen Raum reiner Zweckmäßigkeit, um den Schmutz des Tages, den Schweiß der Allgegenwart abzu-waschen, loszuwerden.
Plötzlich kennt K nur mehr Gegenwart. Er macht sich schön. Sogar ein kleiner Hauch von Zukunft drängt sich auf. Vielleicht gibt es doch noch Veränderung in seinem Leben!
Der Spiegel wirft sein nacktes Bild zurück. Er gefällt sich nun. In diesem Augenblick gibt es keine Vergangenheit mehr. Zur Feier des Abends rasiert er sich - naß. Das tut gut. Da fühlt die Haut sich so wirklich an, so glatt, so frisch.
Äußerlich schafft K ein Wohlbefinden, das in sein Inneres strahlt.
Er geht zum Kleiderschrank, nimmt frische Wäsche heraus, zieht sie an und prüft. Ein neuer Mensch lacht ihm aus dem Spiegel entgegen. Kraft strömt aus seinem Inneren, verteilt ein Wohlgefühl auf der Oberfläche seiner Haut, wirkt bis in die Fingerspitzen. Der Duft der Freizeit hat ihn erfaßt; er dünstet Wohlbefinden aus. Er wird ausgehen!
Vom Haken in der Garderobe nimmt K den leichten Sommermantel, wirft ihn lässig über die linke Schulter. Nach nochmaligem kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel verläßt er seine kleine Wohnung. Das Dunkel des Korridors verschluckt K und spuckt ihn auf die Straße.
Er geht seinen Weg, seinen Weg ohne Vergangenheit. Der jetzige Weg ist wirkliche Gegenwart. Auf diesen Bahnen ist er nun sicher, zumindest - so stelle ich mir vor - glaubt K dies ganz fest im Augenblick. Die Sehnsucht beschleunigt die Schritte. Weder die zuckenden Reklamelichter der Stadt noch ihre Melodie des sterbenden Tages und die Konsum-lockungen aufkeimender Nacht vermögen sich seiner zu bemächtigen. K hat ein Ziel. Sein Ziel. Der Weg ist ge-steckt, Wahlfreiheiten kennen seine Pflaster nicht. Am Ende steht ein Ziel. Kalkulierbar.
K entziffert längst nicht mehr den grellblauen Schrift-zug,der entlang einer bunt gepinselten Hauswand, durchsetzt von dunklen Graffitizeichen, über einem gelben Baldachin in scheinbar endlosen Wellen zum Eintritt auffordert. Die Türen stehen halb offen, dahinter eine undefinierbare Skulptur, die Kommende von Gehenden teilt. Dumpfes Stimmengewirr, Begleitmusik zu überlauter hämmernder Mono-tonie, und Rauchschwaden führen ihn einen sicheren Weg. Das Eintrittsgeld zahlt er beinahe automatisch, ohne dem Kassierenden auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Lässig streckt er seinen linken Unterarm hin, um den üblichen Stempelaufdruck zu erhalten. K hat bezahlt. K ist sozusagen nun legitimiert.
Wild gestikulierend begleitet der Diskjockey seine Worte des Entzückens und legt eine neue CD auf. Hie und da Gejohle der ausgelassenen Tänzerinnen und Tänzer. Das Licht verändert sich im Rhythmus der Taktschläge und tanzt im Raum. K schiebt sich an Leibern vorbei in das Innere, dem Zentrum des Geschehens entgegen. Das braucht seine Zeit, denn hier ist er kein Fremder. Übliche Begrüßungsfloskeln verzögern seinen Weg. Doch dann sieht er sie endlich. Brigitte sitzt mit den anderen an einem kleinen runden Tisch seitlich der Tanzfläche.
Jetzt wird ihm - wie so oft in diesen Augenblicken der Wiederholungen - klar, was er gesucht hatte. Nur Brigitte. Kurzes Vergesssen. Aber wenigstens Momente des Auflebens. Leider kann er die anderen nicht ignorieren. Muß so tun, als interessierten sie ihn, als hätte er sie gesucht und gefunden. Dabei gibt es für ihn nur ein einziges Ziel: Brigitte.
Immer diese gleichen soziale Lästigkeiten, die im falschen Moment im Wege stehen. Für K ist dieser falsche Moment kurioserweise immer dann gegeben, wenn er sich in seine Öffentlichkeitsfestung aufmacht. Hier, in dieser lauten, verrauchten Atmosphäre fühlt er sich geborgen. Hier unter all den Leuten. Von denen ihn aber nur eine einzige interessiert. Gleichwohl braucht er die anderen als Staffage für seine Momentwelt.
Brigitte gibt sich zurückhaltend. Ihre Sehnsüchte scheinen nicht auf K gerichtet zu sein. Sie unterhält sich locker und laut mit den anderen. Die Karten sind längst verteilt. Pech aller Spätgekommenen. Sie will mit ihm nicht tanzen. Heute nicht! sagt sie und lacht vielsagend in die Runde. K bestellt sich das übliche Pils und einen Korn. Brigitte macht darüber eine abfällige Bemerkung. Macht sie doch sonst nicht. Und vor allem handelt es sich um keine Verän-derung gegenüber den allbekannten und monatelang gepflegten Diskoritualen. Doch eine Veränderung: Brigitte. Leider. K fällt wieder in seine Lethargie zurück. Zieht sich in der Gruppe zurück, kein weiter Weg, und schmollt. Niemand nimmt davon Notiz. Um ihn das ungebremste Lachen, die üblichen Neckereien. Die Musik, die Leute, die Getränke - alles wird K plötzlich unerträglich. Dabei hatte ihn doch die Hoffnung getrieben, unaufhaltsam hin zu diesem Ort. Vorbei. Er fühlt sich dort nun als Fremder. Ausgegrenzt. Die Kraft zum Gegensteuern ist ihm längst entwichen.
Er steht auf und geht zur Toilette. In der Kabine schreien ihm die Sexzoten an den Wänden entgegen. Hier hat er mit Brigitte auch schon gevögelt. Beide hatten sie damals plötzlich inmitten der vielen Leute Lust bekommen. Sind dann schnell auf das Klo geflüchtet. Im Stehen. Die Erinnerung erregt ihn. Er öffnet seinen Hosenschlitz, holt den steifen Schwanz heraus. Brigittes fester Busen und ihre warme, wollige Möse drängen in seine Sinne. Die Hilflosig-keit und Traurigkeit versucht er mit hemmungslosem Onanie-ren zu vertreiben. Es kommt ihm viel zu schnell. Nur eine kurze Therapie. Noch einsamer verläßt er die Toilette, schleicht sich durch Qualm und Lärm auf die Straße. Ziellos scheint sein Weg, der ihn letztlich doch nur in seine Wohnung zieht.
Er füllt ein Glas randvoll mit Whisky, schmeißt zwei Eiswürfel hinein, zieht sich aus und legt sich aufs Bett. Das Trinken macht ihn wacher als er sein möchte. Vor seinen Augen erscheint das Bild, seit seiner Jugend marternder Begleiter: er geht in die Scheune und gleich hinter dem großen Flügeltor hängt ein Mensch an einem langen, dicken Seil vom Dachbalken. Schlaff fallen alle Gliedmaßen herab. Sein Vater.
Nie hatte der Vater jemals Andeutungen gemacht, nie auch nur Anzeichen erweckt. K hatte nicht verstehen können. Kann es auch heute noch nicht. Vielleicht auch deshalb immer wieder diese Bilder. Bilder, die sein Leben verändert haben. Meint er. Diese Erinnerung hat K nie mitgeteilt. Immer verschwiegen. Um nicht mitteilen zu müssen, ist er auch weggezogen. Hierher. In die Stadt. In die Anonymität.
K wälzt sich auf dem Bett, weiß nicht, wie er liegen soll. Warum ist alles nur so schwer erträglich? K leert das Glas, steht auf, um es erneut zu füllen. Ein Blick auf die Uhr: schon nach Mitternacht. K schaltet seine Musikanlage ein, legt Musik auf. Musik kann ablenken.
Das Telefon läutet. K hebt ab. Es ist Brigitte. Sie fragt, warum er so plötzlich verschwunden sei? Warum er so wort-karg gewesen wäre? Ob sie noch vorbeikommen solle?
PALEOCHORA 1994 (OSTERN)
oder: Wie nah die Ferne sein kann
(Joseph von Westphalen im Visier)
Er ist es. Kein Zweifel. Obgleich anders als wir ihn uns nach umfangreicher Lektüre vorgestellt haben. Das heißt, daß uns eigentlich jetzt erst klar wird, daß wir uns von ihm ein Bild gemacht haben. Obwohl wir Bilder machen als spießbürgerlich ablehnen. Und wer bekennt sich schon freiwillig zum Spießertum. Spießig sind schließlich immer nur die anderen. Ist ja auch dämlich: sich einer Vorstellung hingeben und naiv annehmen, sie könnte auch nur irgendwie gerechtfertigt sein. Schablonenweltsicht! Ekelhaft! Trotzdem. Ich bekenne mich schuldig. Natürlich nur in diesem Falle, weil unausweichlich. Selbst schuld: man soll sich eben kein Bildnis machen. Von nichts und niemandem.
Als eingefleischter und somit ebensolch einseitiger Epigone der Körpersprachenpsychologie könnte man unschwer enttarnen: haltet euch fern von mir, zerstört mir meine Kreise nicht. Geht dem - zumindest im Augenblick - sozial allzu Genügsamen mithin aus der Sonne.
Doch so urteilen wir selbstverständlich nicht. Nicht der-artig derbe Momentaufnahmen mit ihren ebenso dämlichen wie langweiligen Schlußfolgerungen. Vielmehr geben wir uns dem griechischen Frühstück hin oder dem, was von einem eher scheuen denn aufdringlich polterndem Touristen als solches gehalten wird. Sicherlich zu üppig, gerade recht für hung-rige Teutonenmägen zur Befriedigung vormittäglicher Lüste.
Wacklige Tische und Stühle auf hartem, warmen Betonboden. Darüber ein mehr oder weniger dichtes Schilfdach, angenehm, denn die morgendliche Sonne entfaltet ihre Kraft. Den Blick aufs gleißende Meer gerichtet. Es fällt schwer, die Augen richtig offen zu halten. Empfindliche, alternde Pupillen scheinen den Strahl aus endloser Weite nicht mehr ertragen zu können.
Also Blicke im Schutz des kärglichen Schattens - innerhalb der Enge von Begrenzungen.
Er sitzt immer noch, fast diszipliniert wie eines jener vereinzelten Steinmännchen, die Kretas offiziellen und inoffiziellen Wanderwege weisen. Jene zerstört allenfalls der Zahn der Zeit (das haben wir mit ihnen gemeinsam), eine Laune der Natur oder die Derbheit eines Trampelfusses.
Dennoch: wir halten den Vergleich aufrecht und denken dabei an die Fähigkeit, den Augenblick - und damit den synchron gepflegten Gestus sowie Habitus - zu versteinern und somit zu verlängern. Dies erweckt schon die tiefere Aufmerksamkeit eines unruhigen, die Veränderung spürenden und suchenden Geistes, wie wir es nun einmal sind.
Die Haltung oder das Ringbuch auf dem Tisch? Oder beides zusammen? Ab und an verliert er die gleichsam stoische Attitüde, bewegt sich und notiert. Dann wieder: die verschränkten Arme. Dunkelblauer Rollkragenpulli, darüber ein leicht blauweiß gemustertes Hemd. Indizien schüchtern verborgener Haßliebe zum nun kilometermäßig fernen Bayernlande?
Nein, keine kühnen Thesen! Wir können zumindest mit Hintergrundwissen jonglieren und spekulieren. Wir kennen ihn ein wenig. Trotz Fremde, trotz Urlaub. Wenn wir ihm unseren Augenblickseinfall mitteilten, ihm, dem Ritter gegen Plagiate, wäre das wohl zu viel des Guten. Aber Einfälle bleiben Einfälle, seien sie auch noch so abwegig. Ich muß schmunzeln. John-Steinbeck-Look! Aber so wie unser Paleochora Beinahe-Tischgenosse schreibt wäre diese Äußer-lichkeit der Erscheinung schon fast wieder perfekte Tarnung. Ablenkung!
Wir könnten ja einmal... Nein! So wie wir unser Recht auf Privatsphäre stets reklamieren und, wenn nötig, kämpferisch durchsetzen, müssen wir nun Neugierde und eine gewisse Freude gleichermaßen unterdrücken.
Lassen wir entsprechend das Inkognito zumindest zum Großteil ungelüftet und unterstellen dafür die Dankbarkeit unseres - sagen wir vorerst einmal - Joseph von Paleochora. Trennung muß sein! Schließlich heben wir uns auch das Lesen seiner geistigen Ergüsse konsequent für die heimische Alltäglichkeit auf, auf daß die Wunden bundesrepublika-nischer Politik- und Arbeitswelt, wenn schon unheilbar, doch ein wenig geleckt werden. Dafür bin ich dann ihm wieder dankbar.
Auch können wir schließlich zufrieden sein, daß die gegenwärtige Meeres-Sonnen-Frühstück-Morgenidylle nicht lautstark und hirnzermarternd von halbromanlichen Aufbruchstiraden durchbrochen wird. Schrecklich, würde gerade jetzt die in Papier gefangene Gedankenphalanx ihren Ausbruch wagen! Dann doch lieber die momentane Idylle. Kein Kampf! Zumindest einen Bruchteil Kopf-in-den-Sand-stecken leben können. Pali - wir nennen ihn nun so kühn vertraulich in Anbetracht gegenwärtig erlebter Leichtigkeit des Seins - macht es uns dankenswerterweise leicht...
Aber wenn ich mich schon einmal nicht als taktlos, als nicht undankbar erweise, garantiert dies - so lehren uns die Alltagswege und nun leider wieder auch der Enthemmungsgestank urlaublicher Euphorie - keine generelle Abwesenheit von Belästigung. Auch wenn nur in Form ihrer weiblichen Ausprägung, sicherlich zuweilen unserem Pali nicht ungelegen, zumindest im Augenblick aber lästig, wenn nicht gar unerwünscht.
Die ehemalige Schönheit läßt sich noch ahnen, vor allem beim Anblick des figurbetonten T-shirts. Die sicherlich knochigen Hüften und Beine im schwarzen Flatterrock versteckt. Braunes, lockiges und halblanges Haar. Dünn. Die Haut faltig. Nicht zu leugnen: etwas Schadenfreude steigt auf, während unsere Altachtundsechzigerin (einfach mal so eingeschätzt, Segnung oder Fluch der Intuition?) hemmungslos eine Annäherungsbarriere nach der anderen wegbaggert.
Pali bleibt höflich reserviert, damit chancenlos. Schon sitzt unsere selbsterkorene Gesellschaftsdame auf wackeligem Gestühl. Mir fällt (vielleicht auch deshalb nur das Bild der Altachtundsechzigerin) Kris Kristofferson ein: Josie, you´ve grown harder than your years...
Auf die Darstellung der detaillierten, weil aufgezwungenen, Wahrnehmung des ebensolch rücksichtslosen Verhaltens von dazugehörendem Kinderanhang und einer Pädagogissima sei an dieser Stelle verzichtet. Mir fielen hierzu nur Plattheiten ein. Die Wirklichkeit gibt meist einfach nicht mehr her.
Lassen wir Pali, die Nähe zurück; wandern wir stattdessen nach Sougia und zurück.
Zurück! Den einzigen Weg am Strand entlang. Abendsonne an der alten Kaimauer und den zum Schutz vor schlagenden Wellen angekarrten Felsblöcken. Wir sitzen und schauen. Auch schon mal zu den wie an einer Perlenschnur aufgereihten, nahegelegenen Straßencafés.
Da sitzen sie wieder: die Hartnäckige und Pali, paar Meter vom Morgen entfernt. Die morgendliche Plauderdistanz scheint gebrochen. Zumindest für Augenblicke.
Abends in einer typischen griechischen Kneipe: großräumig, rauchverhangen, typische griechische Männergesellschaft. Nur am Fenster sitzen an einem Tisch zwei Touristen in weinselig-fröhlicher Stimmung. Ansonsten keine mehr. Halt. Doch. Noch einer! Im hintersten Eck sitzt, den Blick nach oben gegen Zeus gerichtet, genußvoll eine Zigarette im Mundwinkel, verklärter Blick, Maske absoluter Zufrieden-heit, Züge unüberbietbarer Selbstsicherheit: mein Pali.
Womit wir wieder ringen und gegen die Lust auf Taktlosigkeit erneut obsiegen. Und zusätzlich belehrt werden ob unserer hemmungslosen Wühlerei im Reich der Vergleiche. Steinmännchen lächeln nämlich nicht! Oder etwa doch? Schon wieder erfasst uns diese Unsicherheit, jene nebulöse Königin aus dem Reich des Wissens. Ist irgendwie aber auch egal.
Wir wandern weiter. Auch wir trinken, essen, reden, lächeln...
Und in ein oder zwei Tagen wird wahrscheinlich der Rucksack, jener Ersatz für Alltagsplackerei, auf der Küstenwanderung nach Christoskalitissas den Rücken drücken. Nicht ganz ohne leisen Gedanken, wie es wohl mit Duckwitz weitergehen mag?
Fluchtreize
Hans Kolakowsky rieb sich die Augenwinkel und gähnte hemmungslos laut in das halbleere Zimmer. Er lehnte es schon seit Jahren ab, große Aufmerksamkeit auf die Gestaltung der häuslichen Umgebung zu legen. Alles sei nur von vorübergehender Natur, meinte er ohne jeglichen Anflug von Resignation oder Trauer auf entsprechende Fragen. Bereit sein wäre alles. Bereit sein, zu gehen, bereit sein, zu bleiben. Wie es eben das Schicksal gerade wieder einmal verlange. Es mache keinen Sinn, Kraft an Unabwendbares zu vergeuden. Jedenfalls belustigte ihn der Gedanke an das Unverständnis der Mitmenschen für seine Lebensgestaltung mehr als daß er ihn beunruhigte. Es gebe ohnehin mehr als genug wesentlichere Gründe für Beunruhigungen als die alltagsplätschernde Meinung vieler Mitmenschen. Also gähnte er, weil ihm nichts Besseres zu tun einfiele. Er konnte dies ohne jegliche Rücksichtnahme erledigen, weil außer ihm selbst niemand anwesend war, den er hätte stören können.
Aber er hatte sich gestört gefühlt. Immer beschlich ihn dieses Gefühl, wenn Lärm zur Unzeit weckte. Diese Gegend hatte er gewählt, zwar auch nur im Gedanken an schnelle Vergänglichkeit, aber er hatte sie ausgesucht: wegen der landschaftlichen Idylle (Hügellandschaft mit Wald und Wiesen) und der vielversprechenden Aussicht auf Ruhe. Kein Verkehrslärm, kein Tourismus, nur eine kleine Dorfwirtschaft (keine Diskothek, er hatte sich vorher eingehend erkundigt), keine organisierten Freizeitareale. Schlicht und einfach alles. Das krasse Gegenteil zum gewohnten (und mittlerweile verhaßtem) Stadtleben.
Kolakowsky traute dem Frieden zwar nie. Mehr als einmal war er hier kundschafterisch herumgeschlichen, ehe er sich entschließen konnte, die Wohnung zu mieten. Mietwohnung in einem Zweifamilienhaus (die obere Wohnung aus unerfindlichen Gründen, aber zu seiner Zufriedenheit, leer) aus den sechziger Jahren.
Das offene System: niedere Gartenzäune, leicht überwindbar. So gebaut, daß Nachbarschaft leicht zur Enge geraten konnte. Er war argwöhnisch ob dieser Spießeridylle, sehr argwöhnisch sogar, aber der Gedanke an seine außer-ordentliche Fähigkeit zur Abschottung wischte die anderen Bedenken schnell hinweg. Wie es ihm überhaupt sehr oft gelang, bereits im Vorfeld gesehene Probleme als minimal und leicht bewältigbar zu bagatellisieren, um nicht in schnellen Konflikt mit seinem Innenleben zu geraten. Jedenfalls ersparte ihm diese Vorgehensweise, nach sinn-volleren Lösungen zu suchen. Er machte daraus so eine Art Lebensphilosphie und jedesmal, wenn in den üblichen Diskutierrunden zu fortgeschrittener feuchtfröhlicher Zeit der Wetteifer um die gescheiteste Art der Lebensbewältigung wie von selbst sich entfachte, konnte er seinen Beitrag an den Mann und (wenn möglich noch viel lieber) an die Frau bringen. Erst dann die Unbilden des Auf und Ab bekämpfen, wenn jene unmittelbar seien, keine Don Quichotterien! Die Bewunderung hielt sich je mehr in Grenzen, desto länger die Zuhörer ihn kannten. Es waren halt die Formen der Wieder-holungen, die durch Neuauflagen nicht gerade an Wert gewannen. Auch konnte man im Laufe der Jahre eine zuneh-mende Müdigkeit und Unglaubwürdigkeit hinter diesen Sätzen vernehmen, sofern man willens war, auch auf die leisen Töne zu hören.
Er gähnte wiederholt und räkelte sich genüßlich im großdimensionierten Bett, damit er keine Gelegenheit finden konnte, sich hemmungsloser Wut hinzugeben. Seit Wochen ist es ihm bewußt geworden: pünktlich um halb sechs Uhr, für ihn und sein Verständnis von Tagesrhythmus zu allzu morgendlicher Stunde, dröhnten die Glocken der nahegelegenen Kirche zum Gebet, zum Morgengottesdienst oder wozu auch immer. Daß ihm das erst seit kurzer Zeit aufgefallen war! Sonst registriert er unliebsame Ereignisse mit sicherem Instinkt unmittelbar, böse Zungen behaupten sogar, daß er bereits im Vorfeld das erst viel später eintretende Unglück zu wittern imstande sei.
Doch wie bislang bei jeder dieser frühen Lärmorgien geschehen, schlief er über dem Gedanken, ob er aus der Not eine Tugend machen, aufstehen und etwas arbeiten sollte, ermattet wieder ein. Er träumte tief und schön. Zimmerte sich im Schlaf eine Welt, wie die Realität sie leider vorenthielt. Seine schönsten Traumphantasien wurden in fröhlicher Begleitung von lauter Blechblasmusik umrahmt. Er fand sich umgeben von buntgeschmückten Spielerinnen, eine jede einzelne bot ihm ihre Huld dar. Bis er merkte: der Traum war Realität. Leider nur zu unangenehmem Teil. Immer mehr hatten sich die lieblichen Schleier der Wunschwelten aufgelöst und machten Platz reiner und lauter Akustik. Er hatte plötzlich das Gefühl, die Blaskapelle spiele mitten in seinem Zimmer. Er sprang mit leichter Wut aus dem Bett und eilte an die zur Straßenseite befindlichen Küchenfenster. Draußen marschierte - jenseits jeglicher Träume, laute Realität - in ihren geschlechterabgrenzenden Kostümen die fleischgewordene Dorfmusik. Morgenstund hat Gold im Mund: Gold der Zähne und der Mundstücke, wohl auch des einschlägigen Talents. Gold, das Hans überhaupt nicht gebrauchen kann. Schon gar nicht zu dieser frühen Zeit.
Kolakowsky holt Erkungigungen ein: die Glockengesänge waren, sind und werden bleiben. Ebenso das Marschieren der Dorfmusik. Tradition. Mehrfach im Jahr. Mitmachen, dann würde es gefallen. Nicht sich ausschließen! Wo er eigent-lich beim letzten Grillfest der Siedlergemeinschaft gewesen wäre? Dabei ist das immer so schön, bis ins Morgengrauen, Bier flösse in Strömen. Tolle Unterhaltung. Nur mitmachen. Mitmachen befreie, schlösse auf. Ohne Kontakte ginge es in der Nachbarschaft ja wohl nicht.
Hans geht auf die nahegelegenen westlichen Hügel. Er erinnert sich an alte Peter Rosegger Geschichten. Die mußten sie immer in der Schule lesen. Im Deutschunterricht. Die Landschaft erinnert ihn daran. Mit warmem Gefühl. Spät-nachwehen der Kindheit. Wie gut, daß es jene in manchen dunklen Stunden noch gibt. Wie ein Märchenanker. Trotzdem. Auf dem Hügel, unter einem breitausladenden Buchenbaum läßt er sich nieder. Steckt wie in jungen Jahren einen Grashalm in den Mundwinkel. Wärme breitet ihren Mantel über ihn.Im Halbschlaf hört er ferne Geräusche. Baumsägearbeiten. Was gewachsen ist, wird gefällt. Neues Wachsen beginnt: irgend-wann, irgendwo. Ein Schmetterling setzt sich auf seine Hand und kitzelt ihn wach. Seltenes Bunt. Hans hebt die Hand vorsichtig näher. Der Schmetterling fliegt auf, steigt in die Höhe und wird Opfer von Vogelfraß. Hans denkt an Schuld. Mitschuldig, ohne es zu wollen. Mitschuldig, ohne es verhindern zu können. Mitschuldigsein als Schicksal. Mit Gewalt scheucht er diese Gedanken. Kann sie nicht gebrauchen - jetzt nicht. Der Blick schweift in die Ferne. Über aufkommenden Dunst am Waldrand. Noch bändigt die Kraft der abnehmenden Sonne und spielt mit dem Schleier. Eichendorff fällt ihm ein. Aus dem Leben eines Taugenichts. Kowalkowsky gleitet in die Vergangenheit. Hauch von Sorglosigkeit. Sorglosigkeit, die nie gewesen. Aber in der Vorstellung. Kraft der Vorstellung. Denken über Möglichkei-ten. Wie es denn sein könnte, wenn... Dann vielleicht Sorglosigkeit? Niemals. Abwesenheit von Sorgen ist gleich Abwesenheit von Glück. Zumindest für ihn. Ein weiteres Axiom in seiner bescheidenen Philosophie. Lebensweisheiten! Wer vermag schon zu wissen, was das sein soll. Sollen. Die Frage nach dem Lassen und Unterlassen. Kowalkowsky spricht mit sich selbst. Innerlich. Dialog im Monolog. Wieviele Kowalkowskys da wohl in seiner Brust wohnen. Verschiedenheiten. Widerstreitend und bereichernd. In seltenen Gipfelstürmen Harmonie formend. Wie im Augenblick. Der Taugenichts hat es ihm angetan. Die Nebel am Waldrand steigen höher. Die Sonne wird schwächer und schwächer. Eichendorff schwindet im Dunst. Die ferne Schafherde trottet in Richtung eines hölzernen Unterstandes. Kraft der Vorstellung: sich unterstellen können, beizeiten.
Kowalkowsky: längst wieder inmitten seiner Burg. Brüchiges Gestein. Die Glocken schlagen scharfe Warnungen. Dorfmusik bläst zu erneuter Erinnerung. Schwachstellen auf der Netz-haut der Pupille gedachter Perspektiven. Vermengung von Wörtern und Bildern. Aufkommende Unordnung. Er dreht die Stereoanlage (ja, die hat er immer als wesentliches Stück seiner Häuslichkeit inmitten selbstgewählter Kargheit!) auf, lauter, so laut es geht. Es gilt Glocken und Blasmusik zu bannen. "You ain´t going nowhere!" Die Wohnung ist erfüllt mit Konservenklang. Er sieht sich um. Macht sich Spaghetti mit der üblichen Tomatensoße und dem künstlich anmutenden Parmesan. Dazu billigen Rotwein. Wie in alten Tagen. Genaugenommen: wie immer. Er kennt es nicht anders. Zumindest nicht in Verbindung mit all seinen gelebten Häuslichkeiten. Er nimmt sich vor, nach dem Essen das Lied selbst zu spielen. Auf seiner alten Gitarre. Vier Griffe genügen. Die kann er.
Kowalkowsky ißt hastig, schlingt beinahe, als würde ihm jemand etwas wegessen wollen. Immer diese Verlustängste. Selbst bei Nudeln. Er blickt befriedigt in die Sphären spärlich möblierter Behausung. Nimmt einen tiefen Schluck, spielt damit in der Mundhöhle bis ein leicht belziges Gefühl sich ausbreitet. Er schluckt. "Hier werde ich nicht lange bleiben!" sagt Kowalkowsky mit lauter und fester Stimme vor sich hin. Aus den Lautsprechern ertönt immer noch: "You ain´t going nowhere." Auf Endlosspiel geschaltet. Technik trifft sich mit dem Leben.
Der Ferienzimmermietbaron
Schon wieder ein Adeliger! werden sie sagen. Doch nicht ganz so voreilig; sie wollen doch nicht im Vorurteil stecken bleiben. Geben sie sich einfach aufgeklärt, passen sie sich an. Zumindest wißbegierig, wenn schon nicht informiert...
Adeliger ist ja bekanntlich nicht auch gleich Adeliger. Hier türmen sich die Unterschiede. Hier geht es diesmal nicht um blaues Blut, echtes, das den Herrn, vor allem auch die Herrin, deutlich spürbar abhebt von all den anderen Trivialitäten gesellschaftlicher und stammbaumbezogener Langeweile. Nein, nicht von den letzten Reservaten stilprägender und Gesellschaftsgeschichte stilisierenden Heroen und deren weiblichen Pendants soll die Rede sein. Das überlassen wir durchaus der Kompetenz jener Magazine, die mit solcherart herrschaftlichen Geschichten das trübe Leben der Lieschen Müllers und Karl Napfs zu füllen verstehen.
Auch diejenigen, welche es verstehen, sich diese Welt verstohlen penetrant durch diverse Hintertüren zu er-schließen oder gar durch meisterliches Schreiten sich der Hauptportale zu bemächtigen, bleiben heute abseits.
Von den käuflichen Naturen wollen wir gänzlich schweigen und sie den illusionschwangeren Sphären ihrer hurenhaften Gesinnung überlassen.
Nein: es geht einmal um jene Profanität, dessen sich der echte Adel niemals lauthals rühmen würde - um das liebe Geld.
Baron als Metapher für den Zwang, die Lust, aber auch die Möglichkeit, aus bescheidenen Grundlagen jenen Besitzstand anzuhäufen, der schließlich für ein "immer mehr" tauglich wird. Ein "immer mehr", das den die Tücke bereits jetzt aufspürenden Leser natürlich wehklagend aufheulen läßt, weil er schon am Ende der Fahnenstange ein Nichts baumeln sieht.
Nun kennen wir längst diese eklige Spezies der Wucherer - Leute, die haben, was andere brauchen, was sehr viele andere brauchen (manchmal wohl auch nur zu brauchen glauben), und die aus diesem Umstand grenzenlos zu scheffeln verstehen. Natürlich wissen wir um die unter-schiedlichen Masken, unter denen diese Bereicherungsorgien ablaufen. Da wechseln sich dreiste Unverfrorenheit, jammernde Gier, sich großzügig gebender Habitus und diverse andere Erscheinungsformen menschlichen Schmierengebahrens mal mehr, mal weniger gekonnt ab.
Wer heutzutage eine Wohnung sucht, der kann ein Lied davon singen. Oft ein Akt traurigsten Exhibitionsismus seitens Bittsteller, gepaart mit knierutschender Akrobatik an De-mutsbezeugungen.
Damit komme ich nun bei der Vielfältigkeit des Angebots an diesen edlen Gebern zum Zwang, eine Auswahl treffen zu müssen.
Binden wir uns also diesmal nicht allzu lange, sondern nur, um der Kurzweil zu dienen. Ein paar Tage ausspannen. Kurzurlaub. Nicht weit weg von der schwarz-rot-goldenen Beflaggung. Nein, diesmal tragen wir nicht zur Zerstörung des Lebens aus der Luft bei, wir fahren nur ins idyllische Nachbarländchen: zum rot-weiß-roten Adler. Das Auto hat bei diesem Ausflug in die pure Natur natürlich Katalysator-reinigung. Diese Information für beunruhigte Umweltgeister.
Hinein in ein vorgeblich stilles Tal. Zum Beispiel Tannheim. Dort, spontan wie es unserem Naturell entspricht: Zimmersuche. Irgendwo. Für zwei, drei Tage. Je nach Wetter-entwicklung. Bei strömendem Regen geht es sich in den Bergen nicht allzu angenehm. Momentan behält der Himmel sein Naß noch für sich.
An einem Donnerstag. Ein großes Haus. Schöne Südbalkon-front. Ich bekomme ein Nordzimmer angeboten. "Es könnten bei schönem Wetter noch Wochenendgäste kommen!" meint der Mietbaron. Kann mir nicht in die Augen schauen. "Es gibt auch anderswo noch Unterkünfte, wenn es mir hier nicht zu-sagen sollte." Der Mann ist merkwürdig. Irgendwie hilflos. Rechnet aber mit viel Geld. Man spürt so richtig sein Dilemma: soll er sich für die Taube auf dem Dach oder den Spatz in der Hand entscheiden? Am liebsten hätte er wohl nur das Geld und keine Gäste. Gerne gebe ich zu: meine Kleidung riecht mehr nach Mensch als nach Geld, mein Gepäck ist eher zweckmäßig als vertrauensheischend und auch sprachlich lehne ich das dämliche Süßholzgeraspel ab. Ist schließlich doch nur ein Geschäft: Zimmer gegen Geld. Und er lebt davon. Nur weil ich keine Lust habe, noch groß weiter zu suchen, bleibe ich im Nordzimmer. Ist mir irgendwie egal, da auch dieser Ausblick auf Berge weist. Aber als Zimmervermieter derart fahrig, sprachlich verarmt und berechnend? Schätzen kann ich das wirklich nicht, auch wenn mir andererseits die sehr oft üblichen Freundlich-keitsschleudern zuwider sind. Auch beim Ausfüllen der satt-sam geläufigen Übernachtungsunterlagen für das Fremdenver-kehrsamt stellt der Vermieter sich recht merkwürdig an. Anders jedoch seine Haushälterin, oder wer das auch immer sein mag. Aus der Gegend kann sie jedoch nicht sein. Norddeutscher Akzent.
Später hämmert und bohrt er noch an seinem Haus herum: noch mehr Zimmer braucht der Geldbeutel. Anwesende Gäste, zumal es nur wir zu sein scheinen, haben diese Beeinträchtigung in Kauf zu nehmen.
Es ist immer das gleiche mit den Geldsäcken: sie wollen dich aussaugen, dafür aber keinen großen Gegenwert leisten. Sollte ich ihm den Hals umdrehen? Das war natürlich nur bildlich gedacht. Wir gehen zum Abendessen einige Meter weiter ins Dorfzentrum hinein. Bei unserer Rückkehr will er sich schnell vom großen Korridor in die Küche davonstehlen, schafft es nicht rasch genug und brummelt so etwas ähnli-ches wie einen Gruß durch seine Zähne. Einfach komisch.
Am nächsten Tag stehen wir beizeiten auf. Das Frühstück wird von der freundlichen Norddeutschen serviert. Es ist reichlich und gut. Diesbezüglich kein Hinweis auf Geiz. Wir haben uns einiges vorgenommen; also schnell in die Berge. Der Himmel hält, was er verspricht: nachmittags, bereits auf unserem Rückweg, aber noch in Gipfelhöhe, fängt es zuerst leicht zu schneien an (es war August). Dann gießt es aus den Wolken - unaufhörlich. Ich schwamm in meinen Schuhen. Die Regenkleidung war hilflos gegen diese Massen.
Alles war durchweicht. Es hatte keinen Sinn, weitere Tage hier zu verbringen. So beschlossen wir, am folgenden Tage abzureisen. Kein Geld mehr von uns, denn wir hatten den Aufenthalt wegen der unsicheren Witterung vorerst begrenzt und eine Verlängerung nur in Aussicht gestellt. Aber wohl auch kein Geld von erhofften Wochenendgästen für die schönen Südzimmer...
Wir stellten die durchnäßten Schuhe ins Bad und legten Teile der klammen Kleidung, soweit Platz war, über die Heizungskörper.
Duschten, zogen frische Wäsche an, um dann ein Gasthaus aufzusuchen. Wir waren hungrig und durchfroren.
Am anderen Morgen teilten wir vor dem Frühstück diesem Herren mit, daß eine Verlängerung des Aufenthalts sich erübrigt habe. Er gab sich etwas gesprächiger als bislang gegenüber uns üblich und fragte nach der gestrigen Bergtour. Er meinte anschließend, wir hätten doch im Heizungskeller alles trocknen lassen können, dann wären weitere Touren mit trockener Ausrüstung möglich gewesen. Ich hörte schon wieder den Geldgeier in ihm krächzen, fragte mich, warum er das nicht gestern angeboten hatte, zumal unsere Rückkehr ihm nicht verborgen geblieben war. "Das läßt sich jetzt nun mal nicht mehr ändern." meinte ich nur und bat ihn, die Rechnung zu erstellen.
Zwischenzeitlich gingen wir in den Frühstücksraum, der Duft von frischem Kaffee lockte und der Magen knurrte.
Wir saßen alleine im Zimmer. Was gestern mir vor lauter Drang, möglichst schnell in die Berge aufzubrechen, nicht aufgefallen war: auf dem Wandschrank standen einige Photos. Davon eines mit Trauerflor umrahmt. Es zeigte eine sym-pathisch und offen blickende Frau mittleren Alters. Am Rahmen steckte ein Sterbebild. Neugierig stand ich auf, um zu lesen. Es war seine Frau, gestorben erst vor acht Tagen.
Nein, er war wahrlich kein Ferienzimmermietbaron, sondern ganz schlicht ein trauriger Mensch aus gutem Grunde...
Hammerwerfer
Kleine Ereignisse entfalten oft unkontrollierbare Wirkun-gen. Sie mögen im Weltganzen untergehen, vernachlässigbar sein, jedoch bei näherem Interesse stehen sie beispielhaft als Abbild menschlicher Globalhandlungen. Eine solche kleine Geschiche erzählen sich die Leute in einem mittel-großen süddeutschen Nest. Vergebens sucht man in früheren Ausgaben der lokalen Presse nach Belegen für den Wahrheits-gehalt. Es ist schlicht nichts verzeichnet. Auch der örtli-che Polizeireport vermeldet rein gar nichts. Spricht man die Leute direkt auf den Sachverhalt an, begegnen einem je nach Naturell der Angesprochenen eisiges Schweigen, wissendes Lächeln oder vieldeutige Äußerungen. Jedenfalls will sich niemand festlegen. Zumindest Außenstehenden gegenüber. Entweder ist man zu fremd oder zu jung oder gar beides, um verläßliche Information zu erhalten.
So ist diese Geschichte von einem ehemaligen Freund, heute am bayerischen Meer wohnhaft, mir mehr oder weniger zufällig zugetragen worden. Kurios deshalb, weil ich aus jener schweigsamen Örtlichkeit stamme, wohl aber zu jung (und wahrscheinlich zu fremd, weil den Einheimischen gegenüber sehr verschlossen) war, um am Ort des Geschehens fündig zu werden. Auslöser für mein steigendes Interesse waren Schulhofvermutungen, die aber selbst in der Fülle zusammengetragener, mosaikhafter Beiträge nur einen eher märchenhaften Hintergrund abgaben denn Tatsachenbeweise. Kindhafte Phantasie ergänzte all die vielen Eindrücke aus dem Hörensagen zu verschiedenen, teilweise sich widerspre-chenden Bildern. Wir spielten damals Detektiv, um weiter fündig zu werden. Erfolglos. Was uns blieb, waren unter-schiedliche Vorstellungen, die sich - je nach persönlichen Vorlieben - nach geraumer Zeit zu unterschiedlichen Wahrheiten verdichteten. Weil jedoch Kindheit und Jugendzeit immer wieder neue, interessante und aufregende Abschnitte bereitstellen, vergißt man das alte zumeist, und läßt sich vom Rad der Zeit weitertreiben. Bis sich dann irgendwann die Erinnerung wieder einstellt.
Wie angedeutet, die Erinnerung war die Bekanntschaft mit diesem älteren Herrn aus Lindau. Ich saß an der Ufer-promenade, Westseite, und schaute der untergehenden Sonne zu. Angenehme Wärme und das Gefühl wohltuender Langsamkeit versetzten mich in einen Zustand zwischen Wachen und Dösen, der das Leben unhinterfragbar schön erscheinen läßt. Es gab nur Gegenwart und allenfalls jenes bißchen Zukunft, das der Bogen der sinkenden Sonne bis zu ihrem Verschwinden hinter der Erdkrümmung zuläßt. Auf keinen Fall irgendeinen Gedanken an Vergangenheit, abgesehen vom periodischen Magenknurren als Hinweis auf die schon länger zurück-liegende Mahlzeit. Doch angesichts der einströmenden Idylle konnte der Hunger ruhig noch einige Zeit warten... Ich genoß es, alleine auf der Bank zu sitzen. Hinter mir fern klingende Rufe und vereinzeltes Lachen spielender Kinder. Teilweise versunken, bemerkte ich zunächst nicht, wie sich jener ältere Herr neben mich setzte, in größeren Abständen dann vor sich hin seufzte und sichtlich um ein Gespräch bemüht war. Diese Redseligkeit, wie sie oft bei Leuten beobachtbar ist, denen zumeist die Möglichkeit sprachlichen Austausches verwehrt ist. Ich spürte Unwillen in mir aufkommen. Nicht daß ich Unterhaltungen um jeden Preis vermeide, aber in egozentrischer Manier bestimme ich gerne selbst, wann und vor allem von wem ich mich stören lassen möchte. Der Herr war hartnäckig und ignorierte meine Einsilbigkeit. Bis dann der Name fiel, der mich vollends aufhorchen ließ. Er hätte einen alten Freund besucht, käme gerade vom Friedhof und wäre von dem doch für sein Alter etwas längeren Weg nun geschafft. Dazwischen immer wieder Hinweise auf den See, die Sonne, die Entspannung. Das mache Leben aus. Die Natur als Gemeinsamkeit und nun noch der Name... Die Vergangenheit war da. Lehrer Pführer. Siegmund Pführer. Mein Volksschullehrer. Sein (damals schon) älterer Freund. Sie hätten sich im örtlichen Schachclub kennengelernt. Kurz nachdem Lehrer Pführer aus jenem schwäbischen Provinznest nach Lindau versetzt worden war. Eigentlich sich hatte versetzen lassen. Unglückliche Liebesgeschichte als Grund. Versuch, durch Flucht sich und seine Welt zu retten. Er hätte die Kämpfe seines Freundes miterlebt. Oft wären Tränen in Strömen geflossen. Er hätte zwar seine Frau gehabt, aber irgendwie war der Lebensfluß dahin gewesen. Er hätte ihm gerne, liebend gerne, geholfen, nicht nur, weil sie befreundet gewesen seien, auch sonst... Keine Möglichkeit. Immer schwärmte er in Wehmut von der blonden Frau, mit der er täglich auf dem Heimweg von seiner früheren Schule beinahe stundenlange Gespräche am Gartenzaun geführt hatte. Während er so liebestrunken in frischer Luft verweilte, ließ er seine Ehefrau inmitten des Stumpfsinns ihrer gemeinsamen Dreizimmerwohnung warten. Die Gegenwart gehörte der Blonden. Aber sie hatte zwei Kinder, ein Junge war sogar sein Schüler. Und dann kam ein drittes. Er meinte, es wäre von ihm gewesen. Sie war sich nicht so ganz sicher. Kannte sich in ihren Verhältnissen nicht mehr eindeutig genau aus. Das hätte ihn noch mehr geschafft. Er mußte fort von dieser nervenaufreibender Umgebung. Er konnte plötzlich nicht mehr. Aber immer wieder hätte er Kontakte gesucht. Trotz allem. Auch sie. Hartnäckig. So richtig mannstoll, müsse sie gewesen sein. Das bei drei Kindern und einem beruflich erfolgreichem Mann. Hohes Tier beim Militär. Siegmund habe immer gemeint, sie wäre totunglücklich gewesen. Nur ihre Anständigkeit hätte sie daran gehindert, Kinder und Mann im Stich zu lassen. "Dieser Traumtänzer. Wollte sich eine spannendere Welt zusammenbasteln. Wollte nicht sehen, daß jene Blondine nie und nimmer ihre gesellschaftliche Sicherheit aufge-geben hätte, schon gar nicht für einen Volksschullehrer. Nein, Siegmund war verblendet. Vielleicht gerade weil seine eigene Frau so nüchtern, so liebenswert hausbacken war. Dieses Schielen nach vermeintlich großer weiter Welt." sagte mein Nachbar im Tonfall längst gewonnener Überzeugung ohne jeglichen Anflug von Bitterkeit in der Stimme. So sei das Leben nun einmal. Auch wenn es in diesem Fall tragisch endete. Herr Pführer hätte sich umgebracht, aus Liebes-kummer, wie er es selbst bezeugen könne. Aber da kämen sicherlich noch unentdeckte Flecken unbefriedigter Alltags-verharrungen hinzu. Wer könne schon in die Menschen hineinschauen. Der eine lebe halt leichter und der andere eben schwerer. Ihm wäre diese Herzensflamme, die er jedoch nur aus Pführers Erzählungen kenne, eigentlich schon immer suspekt gewesen. Aber so ist es halt mit der Verliebtheit oder wie immer man diesen Zustand entfesselter Willen-losigkeit bezeichnen mag: was der eine bewundert, anhimmelt oder gar anbetet, stößt bei anderen unangenehm auf und wird bestenfalls als lächerlich empfunden. So hätte diese Dame von früher Jugend an ihr Haar blond eingefärbt, weil sie mit ihrem natürlichen, dunklen Haar nicht arischem Ideal nacheifern konnte. Pführer fand das neckisch und niedlich (er gebrauchte des öfteren den Ausdruck "süß" für ihre Eskapaden), mein Gesprächspartner nannte ihr Verhalten "schlicht bescheuert, naiv und befremdlich". Auch wenn Siegmund von der Tangovorliebe seines Verhältnisses schwärmte und sich selbst glauben machte, daß sie nur für ihn Tango tanzen würde, konnte meine neue Bekanntschaft darüber nur lachen und ratlos den Kopf schütteln. Nicht daß er Siegmund gegenüber schonend aufgetreten wäre, nein, ganz im Gegenteil: er habe immer wieder versucht, ihn auf den Boden der Tatsachen (wie er sie gesehen hatte) zu holen - vergeblich. Liebe mache eben blind und Verzweiflung noch blinder...
Ich hatte meinen alten Lehrer nach der zweiten Klasse Volksschule nie wieder gesehen. Auch fehlte mir jegliches Bedürfnis dazu. Nicht daß er mir in allzu unangenehmer Erinnerung geblieben wäre. Nein, da war nichts außer dem üblichen Vermeidungsverhalten, was die meisten Schüler damals ihren Lehrern entgegengebracht hatten. Ich bin halt damals schlicht aus seiner Welt herausgetreten und in eine neue, andere hinein. Ein neuer Lehrer mit Liebe für Natur, Wiesen, Blumen, seine Bienenzucht. Ein Lehrer mitten in einem anderen Leben. In einem schöneren, aufregenderen, wie ich auch heute noch dankbar erinnere...Der Sonnenball und das sich nun leicht kräuselnde Wasser unterstreichen meine Gedanken. Unterschiede spürt man als Kind vielleicht deutlicher als später mit bereits verbildetem Erwachsenen-herzen, auch wenn sie nicht vernehmlich benennbar scheinen.
Obwohl Pführer schon seit Jahren tot ist, gehe er weiter in seinem Leben umher. Und mit ihm diese schuldbeladene Frau. Gewiß hätte sie maßgeblichen Anteil an Siegmunds Tod. Hätte ihn ja in Ruhe lassen können. Nicht weiter quälen dürfen. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen. Siegmund habe sehr viel über sie gesprochen, von ihr erzählt. Muß ja eine merkwürdige Familie gewesen sein. Vielleicht immer noch, er wisse das nicht so genau. Ich erinnerte mich an die Schulhofmosaiksteine: an jene Gesprächsfetzen und Wissenskonglomerate, die gerade die Familie jener Geliebten des Lehrers Pführer zum Ziel gehabt hatten. An jenen Deckmantel des Schweigens, der weitergehende Annäherungen verhinderte.
Auch wenn es heute keine Bedeutung mehr hatte - ich beschloß, zu fragen.
Siegmund habe darüber gesprochen. Lange nach seinem Umzug zum Bodensee habe sich das alles abgespielt. Tatsächlich wäre es jedoch gelungen, alles zu vertuschen. Es wäre nicht einfach, dies zu erzählen. Weil alles so miteinander verwoben sei. Tatsache scheint, daß die Mutter jener Familie mehrere außereheliche Verhältnisse gehabt hat. Daß also Pführer nicht der leider nur Zuspätgekommene war. Halt einer unter mehreren. Ferner scheint ungeklärt, wer der Vater des dritten Kindes wirklich ist. Auch wäre einmal kurz über Trennung gesprochen worden. Ihr Ehemann habe dann den Nachgeborenen als Versöhnungswerk angesehen, abgöttisch geliebt und verzogen. Auch ist zweifelsfrei, daß der Vater die beiden älteren Kinder, den ältesten Sohn und die etwas jüngere Tochter, je nach Gutdünken und Lust häufig kräftig vermöbelt hatte. Der Sohn floh zu Verwandtschaft und in ein Internat, baute sich dort eine eigene Welt auf, während die Tochter umsomehr unter die Fittiche der Mutter genommen wurde, die so ihre eigenen Enttäuschungen durch hemmungslose Einflußnahme auf die Tochter zu einem späten gerechten Ausgleich führen wollte. Und dazwischen immer wieder - in zunehmend größeren Abständen - Pführer. Und immer wieder auch andere. Komischerweise erklärte sie ihm stets alles, erzählte auch von den anderen Bettgeschichten. Der Herr schüttelte den Kopf und ergänzte, daß sie das alles vielleicht gebraucht habe, um ihre übergroßen Minder-wertigkeitskomplexe zu bekämpfen. "Hat ja nicht viel vorzu-weisen gehabt. Keine richtige Schulbildung. Nur so etwas wie private Handelsschule oder etwas ähnliches. Litt sehr darunter, daß sie kein Abitur hatte." In ihrem Umgang mit der Männlichkeit war sie anfänglich - das heißt all die Jahre, in denen ihr noch keine gesellschaftlichen Pflichten durch den militärischen Aufstieg ihres Ehemannes erwachsen waren - bildungsmäßig gesehen nicht so wählerisch. Er wisse von einem Schlossermeister, einem Limonadenfabrikant, aber auch von einem Rechtsanwalt - und vor allem Pführer. In diesem familiären Durcheinander wurde der Platz für die beiden älteren Kinder immer dünner. Der jüngere hingegen wurde nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, der Vater verzichtete gar auf seinen Nachtisch beim Essen, um dem Jüngsten seine nimmersatte Gier befriedigen zu helfen. Daß dies alles nicht ganz astrein gewesen sein konnte, ergibt sich auch aus der Tatsache, daß der hochbekränzte Militär mit seinem Kleinod bis in dessen Jugendzeit hinein Mittagsschlaf hielt. Er ließ diesen Kleinen eigentlich nie richtig wachsen, reifen. So entwickelte sich ein gieriges, unkontrolliertes Früchtchen. Vor allem durfte er sich gegenüber den beiden anderen alles herausnehmen, wurde er doch durch den Patriarch des Hauses zusätzlich noch körperlich abgesichert. Eine echte militärische Allianz. Der Kleine pflegte vor diesem gesicherten Hintergrund Distanzattacken. So flog schon einmal ein Schuh gegen den Kopf auserkorener Kontrahenten. Und als die Tochter es wagte, diesem Geschoß auszuweichen, gab es statt Lob für dieses taktische Geschick Prügel von militärischer Hand, weil die Schuhgranate die Wohnzimmerscheibe durchschlug. Diese Geldausgabe hätte ein tapfer hingehaltener Kopf eben verhindern müssen... Solcher Beispiele wären zwar noch einige, aber ich hätte ja nach diesem bestimmten Vorfall gefragt.
Es soll angeblich an einem Samstag gewesen sein. Die ganze Familie stand in der Nähe des nördlichen Eckes dieses Bungalows, jener Sichtbarmachung familiären Zusammenhaltes. Wie überhaupt Äußerlichkeiten auf allen Seiten - so angeblich die immer wieder benützte Formel des Vaters - Familiensinn versinnbildlichten. Wie das auch immer hätte funktionieren können, wurde nie tiefer durchdrungen, einschlägige Fragen, aus kindlichem Spürsinn geboren, mit Schlägen der Hilflosigkeit beantwortet. Da stand sie also, diese seltsame Familie, ihre Mitglieder in zufälliger Nähe zueinander - selten genug. Pführer konnte nur aus zweiter Hand berichten, eben was er aus dem Munde seiner Geliebten vernommen hatte; aber - gerade weil jene von der Furcht vor sogenannten Peinlichkeiten geradezu phobisch besessen war - gibt es keinen Grund, am Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Eher könnte es noch schlimmer gewesen sein.
Oberflächliches Wortgeplänkel, harmlos, eben damit keine Reibung hätte entstehen sollen. Also langjährig von allen im gegenseitigen Umgang gepflegte Praxis. Einige gegossene Betonplatten - für einen anzulegenden Weg zur zehn Meter nördlich gelegenen hölzernen Garage (Schwarzbau) - liegen herum. Dazwischen Maurerwerkzeuge. Wie gesagt: plätschern-des Reden. Reden um des Reden willen. Der Vater, wie so oft, wie meistens, verteilt völlig zusammenhangslos Kose-namen an den Jüngsten. Die Mutter, mehr oder wenig ambivalent hierzu, macht verniedlichende Bemerkungen, begleitet von dem Bemühen um burschikose Keckheit. Beinahe teenagerhaft. Der älteste und die Tochter wiederholen mit spöttischem Unterton die Kosenamen in Richtung Jüngstem. Auch fällt der Spitzname "Raffzahn", eine Geistesschöpfung der Mutter, weil der Jüngste sich stets hemmungslos besitzergreifend verhielt. Vom ältesten Sohn. Der Hätsch-ling bekommt einen seiner nicht seltenen Jähzornsausbrüche, blickt zu Boden, sieht einen Hammer liegen, bückt sich blitzschnell, ergreift ihn und schleudert ihn dem großen Bruder mitten auf die Stirne. Die Schwester flieht zur Seite, von früheren Schuhwürfen vorgewarnt, die Mutter schreit hilflos hysterisch auf, während der Getroffene nach kurzem Schreckmoment die linke Faust dem kleinen Fratz ins Gesicht schlägt. Dazwischen donnert nun in bedingungsloser Allianz treue militärische Kompetenz, um den kleinen Zög-ling von weiteren Angriffen zu bewahren und nach der Devise, Angriff ist die beste Verteidigung, selbst den plötzlichen Feind zu vernichten. Langjährige Übung im Landen von erniedrigenden Treffern, in regelmäßig durch-geführten privaten Manövern erworben, bringen die Verbündeten schnell zu einem Blitzsieg.
Was im Innern des ältesten Sohnes vorgegangen sein mag, kann nur vermutet werden. Jedenfalls war genau jene Sekunde das Ende seines hilflosen Opferdaseins. Jegliche Hemm-schwelle ging unvermittelt verloren. Er floh einige Schritte rückwärts, das militärische Urgestein hinter ihm her - wohl in ungebremster und blinder Siegeseuphorie -, hielt dann plötzlich inne, holte aus der rechten hinteren Jeanstasche ein italienisches Klappmester, ließ es blitzen und griff an, stach in den linken Oberarm des wütenden Berserkers. Zog die Klinge zurück, ließ den aufschreienden Herrn über Gewalt links liegen, jagte dem jüngsten hinter-her und stach ihm in die rechte Hinternbacke. Dann blieb er ruhig stehen, drehte sich um und blickte dem Vater kalt ins Gesicht.
Er soll ihn aufgefordert haben, es nochmals zu versuchen, diesmal aber mit dem Hinweis auf äußerste Konsequenzen. Ab jetzt Auge um Auge, Zahn um Zahn: soll er geschrien haben. Jedenfalls hätte der Alte es nicht gewagt, wohl eingesehen, daß das Ende seines Tyrannendaseins zumindest in dieser Hinsicht gekommen war. Wenn die Hemmschwelle erst einmal gefallen sei...
Bei jeweils verschiedenen Ärzten hätten Vater und jüngster Sohn ihre Wunden versorgen lassen. Vorgeschobene Gründe wären dort zumindest nicht angezweifelt worden. Zwei in einiger Entfernung vorbeigehende Spaziergänger hätten zwar aufschlußreiche Wortfetzen aufgeschnappt, zu weitergehenden Maßnahmen wäre jedoch keine Gelegenheit gewesen. So kursierten halt nur Gerüchte...
Die Augen des Fremden zogen die Spiegelbahn der untergehenden Sonne entlang. Lange schwieg er nun vor sich hin. Bis er endlich mit langsam schüttelndem Haupt kaum vernehmlich vor sich hinsprach, als wäre er allein: "Armer Siegmund. Armer Pführer. Es hätte alles doch viel einfacher sein können, sein müssen. Armer Siegmund Pführer!"
Ich wußte nun Bescheid. Ein Jugendrätsel hatte seine späte Auflösung erfahren. Glücklicher war ich deswegen nicht. Ein leichtes Erschrecken legte sich in mir breit bei dem Gedan-ken, daß jener Militär unfähig gewesen war, seinem kleinen Familientrupp zu entsprechen, im Ernstfall aber über Tau-sende von Soldaten und deren Geschick regiert hätte.
Es wucherte das Gedankengeschwür mannigfaltiger Entartungen aus der sicherlich nicht gegebenen Einzigartigkeit. Welche Privatheiten sich hinter hochdotierter Öffentlichkeit wohl immer verbergen mögen! Schwer zu ertragendes Ausgeliefert-sein an Zufälle...
ITALIENREISE
Samstag
Ein Nachdenken ohne Ende. Ein Nachdenken im Glück. Ein Leben im Glauben und in der Hoffnung. Leben! Ein Mensch, ein einziger unter all den vielen lieben Menschen. In ihr liebe ich alles!
Fortfahren - losziehen, um wiederzukommen. Andauernde Rückkehr! Allein fahren - noch. Nicht mehr lange. Und doch bist du dabei: für immer miteingestiegen. Zwei Kapitäne auf festem Boot, auf mal glatten, mal schäumenden Wogen - das Steuer fest in eigenen Händen.
Deine Stimme am Telefon, ein klein wenig traurig (wer könnte jetzt auch wunschlos glücklich sein!), bringt dich und mich näher, gräbt Wurzeln in neuer Heimat. Das kann nur dort sein, wo das Herz ist: wo unsere Herzen zusammenfließen. Wonne der Liebe! Margit, so haben wir beim Suchen Glück ge-habt, unseren Weg ins Leben gezeichnet.
Der Nachmittag noch am Baggersee: wohin trieben wohl meine Gedanken? Du mußt viel arbeiten, während ich mich ein klein wenig vergnügen kann. Lieber wollte ich teilen, teilen mit dir, weil dann alles erst so richtig ganz wäre, so richtig voll Leben, voll Existieren. Ich habe dich lieb.
Diesmal noch werden wir unser Gepäck alleine und in getrenn-te Richtungen tragen. Nicht jedoch die Gedanken und unser Fühlen. Ich wünsche dir, liebe Margit, viel Freude.
Die Abfahrt: mir ist etwas komisch zumute, so ein Hauch Wehmut. Was du wohl gerade machst? Jussuf und Ronny waren mit am Bahnhof. Es ist gut, Freunde zu haben. Wenn ich mich nur richtig ihnen gegenüber öffnen könnte. Doch der Tag wird kommen.
München: endlos lang, dieser Nachtexpress nach Rom. Ob der Computer wohl den richtigen Platz gefunden hat, ob Irrtum der Technik gar Unannehmlichkeiten bereitet? Nein, da ist die Wagennummer, endlich. Im Abteil ein freundlicher Schaffner und eine Amerikanerin, "sixty years old". Ein anregendes Gespräch ergibt sich. Sie erzählt von ihrem Mann, ihren zehn Kindern und von ihrem Glauben. Gerne sei sie Katholikin, lehne aber nach dem zweiten Vatikanischen Konzil die Hierarchie in der Kirche noch mehr ab. Dennoch - dort sei ihre seelische Heimat, und vor allem bei ihrem Mann. Die Kinder? Mit achtzehn Jahren müßten sie flügge sein und eigenverantwortlich handeln. Sie zieht den Vergleich zu Vögeln im Nest. Eltern könnten nur Beispiele setzen und versuchen, zu verstehen - sowie zu lieben, auch wenn es anders als dem eigenen Wunsch gemäß laufen sollte. Eine Tochter sei "gay", was beide, sie und ihren Mann schmerze, aber sie akzeptierten es halt. Nur tue es weh, daß man den Umstand vor der Welt verstecken müsse. Doch dafür wären ihre Freunde allzu "narrow-minded". Überhaupt wäre man nur allzu oft "locked in a box"...
Ein Herr möchte seiner zweiten Frau Rom zeigen, weil er unter anderem schon mit seiner ersten dort gewesen wäre. Die Pietà, der Moses, die Brunnen: sie zögen ihn in eine andere Welt und lehrten Ehrfurcht.
Das Wackeln der Eisenbahnwaggons erinnere ihn an Rußland - Kriegsgefangenentransporte. Gottseidank lehnten sich unter den Jugendlichen wenigstens einige auf. Es müßten jedoch viel mehr sein. Meint er.
Vor ein paar Tagen: ein Schauspieler der Ulmer Bühne, Hauptdarsteller in Antigone, mir angeblich sehr ähnlich sehend, durchbrach ein Geländer und stürzte in die Donau. War tot. Zuerst barg man ihn, dann den Wagen. Er (der Mensch) hing durch, die Helfer konnten ihn nicht in den Sarg bringen. Da hob eine Frau mit ihrer rechten Hand sein Gesäß höher, damit er in den Sarg paßte. Er paßte nun. Und das, wo sie doch so schöne, gepflegte Hände gehabt hätte. Grazile, längliche, schlanke.
Eine so schöne Frau. So ein unpassendes Verhalten. Das gibt ihm zu denken. Dem überlebenden Zuschauer!
Wie nett er zu seiner zweiten Frau ist! Es tut gut. Mir auch.
Die Hamburger Abiturientin und ihr Freund: endlich wollen sie mal ausspannen. Jetzt, wo es vorbei ist. Elba. Die Eltern haben ihr schon alles erklärt. Sie reden halt gerne über ihren Urlaub. Wer tut´s denn nicht? Ich doch auch. Hole du Kaffee! Nein, Du! Nein du! Und dann gehen sie doch beide. Zusammen!
Ich liege da und denke an dich. Dann finde ich auch ab und zu etwas Schlaf; der Zug ist so unruhig. Irgendwann kommt der Morgen. Der Sonntag. Bologna.
Sonntag
Weiter geht es mit geringer Verspätung. Die Abteile sind voll. Dieser Teil der Fahrt verläuft zumindest etwas schweigsam. Nicht daß es still wäre - junge Mädchen albern auf dem Gang, klopfen gegen Scheiben. Rascheln, husten, niesen, stöhnen, lachen: irgendein Geräusch ist immer. Und dann ist da noch das monotone Rollen des Zuges. Ab und an ein Pfiff. Bis Ancona.
Die Landschaft scheint mir wie eine niedere Mittelgebirgslandschaft, nur halt südlicher. Überhaupt geht alles etwas ruhiger - nicht leiser - zu.
Umsteigen in Ancona. In einen sogenannten "Locale". Holzbänke. Richung Pescaro. Vom Zug aus wirkt ein Ort schöner als der andere. Strände direkt an der Bahnlinie! Aber ich habe ja bis San Benedetto al Tronto gelöst. Irgend-wann, das heißt eigentlich relativ pünktlich gegen drei Uhr nachmittags, bin ich dann dort.
Mein erster Eindruck: Monaco und Bad Wörishofen in einem. Nichts wie weiter! In das nahegelegene vermeintlich idylli-sche Porto d´Ascoli, ein Fischerdörfchen, wie ich meine.
Trampen. Geraume Zeit stehe ich an der Ausfallstraße. Es gibt viel zu sehen, uninteressant ist das Treiben hier nicht. Die Straße gleicht einem Boulevard, umsäumt von schönen alten Häusern und südlichem Pflanzenwuchs. Es ist immer wieder interessant, die Gesten der Vorbeifahrenden aus der Tramperperspektive zu beobachten. Verlegenheits-gesten wie Kratzen am Ohr, Rechtfertigungsverhalten wie Ausstrecken der Finger zum Signalisieren baldigen Abbie-gens, Temposteigerung, verbissenes Geradeausschauen und verkrampftes Festhalten am Lenkrad, suchende Blicke zur Beifahrerin und - natürlich auch - gelegentlich spöttisches Lächeln. Zugegeben, die Straße ist für den Autofahrer zum Anhalten nicht allzu günstig. Aber sie ist mir zu lang, als daß ich einen günstigeren Standpunkt aufsuchen möchte. Irgendwann wird schon jemand halten. Ich habe es ja nicht eilig.
Es hält jemand nach geraumer Zeit. Ich finde ihn sehr freundlich, nicht nur weil er sich meiner erbarmte...
Fährt mich zum Bahnhof nach Porto d´Ascoli. Bahnhöfe sind nach meiner Einschätzung keine schlechten Ausgangspunkte für eine erste Orientierung, ist man fremd. Hier trifft dies jedoch nicht zu. Ich nehme meinen Rucksack auf und be-ginne meinen Entdeckungsspaziergang durch den Ort. Klein-ausgabe von San Benedetto mit italienischer Feiertagsbe-geisterung. Unterkunft gibt mir ein Hotel - Zimmer mit Meeresblick, in unmittelbarer Strandnähe. Die Wahl gefällt mir, denn zwei Tage Ruhe und Erholung nach der Fahrt empfinde ich schon als notwendig und angenehm. Vom Balkon aus betrachte ich erst einmal genüßlich meine neue Umgebung. Dann noch zum Strand. So schaue ich mich um, finde dann im Sand einen weichen, sich dem Körper anpassenden Ruheplatz und spüre den lauen Wind, sauge die letzten Sonnenstrahlen ein. Das altvertraute Rollen der brechenden Wellen wird zur Schlummermusik.
So nach und nach verlassen alle den Strand. Ich bleibe. Leichte Kopfschmerzen stören nun die Idylle ein wenig. Dagegen wird wohl einmal gründlich ausschlafen helfen. Hunger und Durst kündigen sich an, der Magen knurrt for-dernd. Das läßt sich abstellen. Vieles läßt sich abstellen, wenn man es will und es hartnäckig versucht...
Also Suche nach einem Restaurant. Spaziergang durch Porto d´Ascoli. Eine Autoschlange vor mir. Hupkonzert. Flaggen-parade mit Roller, Motorräder, Autos. Einbahnstraßen und Fahrspuren scheinen nicht zu zählen. Dennoch - oder gerade deswegen? - läuft der Verkehr relativ reibungslos. Teils interessiert, teils gelangweilt tapse ich umher. Kicking stones and feeling groovy. Der Magen fordert immer stärkere Aufmerksamkeit. Dennoch wird erstmal weitergegangen. Vorbei an im stärker werdenden Wind flatternder Wäsche, an lärmen-denden und spielenden Kindern, an streunenden Katzen und Hunden, an auf ihre Gehstöcke gestützten Alten. Alles scheint unterwegs zu sein. Lebendiger Abend.
Ich könnte mir ja noch schnell die Straße nach Terni, meinem nächsten Ziel, suchen, damit ich übermorgen weiß, wo ich einen günstigen Standplatz fürs Anhalten finden kann. Zu Fuß ist man jetzt schneller als der Autokorso. Mit Gelassenheit regelt ein Polizist an einer verkehrsreichen Einmündung den Trubel. Es ist wirklich Feiertag.
Da ein Wegweiser: Roma 241 Kilometer lese ich. Das stimmt ein wenig traurig. Wo du wohl gerade bist? Wie es dir er-geht? Roma! Ich wische mir verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, merke mir diesen Platz, denn von dort geht´s übermorgen los, und tauche wieder in die Seitengassen ein. Bei einer häßlichen Ruine in der Nähe eines gleichermaßen häßlichen Schulgebäudes setze ich mich auf einen Stein-quader, schaue, denke und schreibe. Und atme mehrmals kräf-tig durch. Du fehlst mir. Ich muß ans Wiedersehen denken. Bald! Aber es geht mir gleich wieder besser. Immer diese kurzen Ausrutscher auf dem seelischen Glatteis.
Schließlich mahnt der Magen. In einer Bar trinke ich ein Bier und esse eine Pizza. Sie schaut aus und schmeckt wie unsere Stehimbißprodukte. Nichts Besonderes. So kommt es mir jedenfalls vor. Vielleicht auch ein Problem der Umgewöhnung?
Gelassener und gesättigt geht es wieder in Richtung Unterkunft. Doch: die Kopfschmerzen hätte ich ganz gerne los. Also heute mal richtig ausschlafen, schließlich geht es vor allem um Erholung! Auf dem Weg zurück: immer noch scheint sich alles Leben auf den Strassen und in den engen Nebengassen abzuspielen. Wirkt auf den Außenstehenden alles ganz harmonisch. Selbst das Laute klingt friedlich. Ganz anders als der "Willy" im Liegewagen gestern, der den Schaffner übelst beschimpfte, weil jener kein oder nicht ge-nügend Deutsch konnte und weil ihm die Liegekabinen zu klein waren. Weil er nur einen Mittelplatz hatte. Weil, weil, weil,... Es war, schlicht gesagt, äußerst unschön. So typisch deutsch. Davon hier keine Spur.
Ich setze mich doch nochmals an den Strand. Da sind paar riesige Gesteinsblöcke. Eine gute Möglichkeit zum Verweilen und Schreiben. Ich betrachte die sich langsam verdunkelnde Küstenlinie. Ein Licht nach dem anderen leuchtet auf. Wellen schlagen ihre dumpfen Melodien. Eine Stimmung zum Wohlfühlen. Die Abendstimmung einsaugen und dann schlafen! Gründe zur Freude genug.
Eine Gestalt kommt alleine den Strand entlang. Mit einer kleinen Katze auf der Schulter. Ein Mädchen. Sie kommt her, spricht mich an. Die "Unterhaltung" ist leider sehr schwierig, denn ihr Englisch und mein Italienisch sind jeweils sehr ungenügend für ein ausführliches Gespräch, un-genügend vor allem für die versuchte anspruchsvolle Thematik. Sie studiert Psychologie in Padua und kann nicht sehen, wie eine Verbindung von Psychologie und Erziehung herzustellen wäre. Gerne würde ich das Thema wechseln, weil ich zu wenig Sinn für eine derartige Erörterung angesichts der Sprachbarrieren sehe, aber sie läßt nicht locker. Ich möchte gehen; zum einen bin ich sehr müde, zum anderen fröstelt es mich nun doch etwas. Sie will mir einen Pullover holen. Wie ich nur müde sein kann! meint sie. Ich bin es aber trotzdem. Und dann wollte ich eigentlich träumen.
Herrlich wurde - so glaube ich - aneinander vorbeigeredet. Wir sagen uns noch unsere Namen, sie heißt Karla; Karla nimmt ihre Katze, ich meinen US-Armeebeutel, und dann trennen wir uns. Schade und doch nicht schade. Eigentlich doch mehr schade... Immer wieder diese Zerrissenheiten. Es ist nun doch viel später geworden als vorgesehen. Die Kopfschmerzen sind trotzdem noch da. Trotz Karla! Mittler-weile ist es dunkel. Und ich wollte in aller Frühe den Sonnenaufgang morgen erleben... Sonnenaufgang am Meer. Immer wieder ein unbeschreibliches Ereignis.
Montag
Irgendwie wache ich auf. Obwohl es wirklich nicht laut war. Ein ruhiges Hotel. Wie spät es wohl sein mag? Jedenfalls strahlt die Sonne bereits in mein Zimmer. Also kein Sonnenaufgangserlebnis heute. Ich öffne die Balkontüre: das Meer blendet mich. Angenehm! Am Strand ist noch Ruhe. Herrlich. Suche den Sand mit blinzelnden Augen nach Karla ab, einfach so. Könnte ja sein. Ist aber nicht. Natürlich ist sie nicht da.
Ich möchte schreiben. Einen Tisch und einen Stuhl. Wer weiß, wann die Gelegenheit wieder so günstig sein wird. Zuvor noch schnell die voraussichtliche Tramproute für morgen zusammenstellen. Zum wievielten Male eigentlich? Der ewige Planer...
Im übrigen werde ich heute nur faul sein. Am Strand in der Sonne liegen und schwimmen. Zwei Käsebrote und eine Cola habe ich noch zum Frühstück. Und dann wird das Essen wohl ganz italienisch werden.
Der Gedanke an dich ist wieder da. Ich denke daran wie es wäre, wenn wir so einen Blick einmal zusammen erleben dürften. Es wird kommen der Tag! Zumindest im Augenblick glaube ich daran.
Das Meer glitzert und funkelt. Dabei geschrieben und immer wieder in die Weite geschaut. Paradiesisch. Nun freue ich mich auf mein Frühstück und dann auf eine frische Dusche.
Ob sie wohl funktioniert? Sie hat funktioniert. Hinaus ans Meer! Der Strand ist heute fast leer. Auch keine Karla mit Katze. Ob der Pfingstmontag in Italien kein Feiertag ist? Die Sonne brennt ganz schön herunter. Das Wasser ist so richtig angenehm. Ich gleite durch die leichten Wellen, spüre das Salz auf Lippen und Haut. Sonne, Wasser, Sonne, Wasser, Sonne, Wasser: welch ein Rhythmus!
Momentan liege ich wieder im Sand. Was du wohl gerade denkst? Ich weiß, das soll ich nicht fragen. Dennoch: was denkst du gerade?
Heute erhole ich mich so richtig. Ich spüre die Kraft in meinem Körper wieder. Auch die Kopfschmerzen sind längst weg. Wie weggeblasen. Ob im Wasser, ob in der Sonne - ich spüre mich. Übertreiben mag ich das Sonnenbaden jedoch nicht; schließlich wäre ein Sonnenbrand nicht nur beim Rucksacktragen beschwerlich. Zuerst die Wertsachen aus dem Sand graben, anziehen und zurück ins Hotel. Duschen. Das tut gut. Dann wieder der Blick vom Balkon. Spiegelndes Meer. Immer noch keine Karla. Rufende, lockende Ferne. Wohin ruft sie mich? In eine gemeinsame Zukunft mit dir? Es ist so schön hier. Doch noch schöner ist es mit dir. Mein Engel. Tu sei l´unica donna per me.
Eigentlich könnte ich einen Teil des Tages in San Benedetto verbringen, kurz dorthin stoppen, um zu sehen, wie es heute, da ich ausgeruht bin, auf mich wirkt. Abgemacht. Erst noch ein "bierra chiara" mit Blick aufs Meer. So sitzen und schauen. So sitzen und atmen. So sitzen und leben.
Dann stoppen. Ich stehe an der Straße. Im Hintergrund laute Musik. Heute warte ich nicht lange. Zwei Jungs nehmen mich im Auto mit. Welche italienischen Sänger wohl in Deutschland gehört werden? Ihre Reaktion zeigt verächtliche Ablehnung: Celentano, Branduardi, de Angeli, Sorrenti. Es scheint wohl viel, viel Besseres hier zu geben. Wo sie mich rauslassen sollen? Irgendwo. Verständnislosigkeit. Also zum Bahnhof. Ist ja auch egal, von wo aus ich aufbreche, um San Benedetto zu ergründen.
Ziellos schlendere ich durch die betriebsame Stadt. Neu und alt wechseln sich unsystematisch ab. In einem Hinterhof finde ich einen prachtvoll bepflanzten Garten. Palmen - und zwei Edelhunde. Da, vor mir, ein Berg mit Kirche und Turm. Dorthin werde ich gehen. Hinaufsteigen! Kinder spielen auf den Wegen. Eines fällt vom Fahrrad, schreit lauthals, ver-letzt sich aber nicht. Zwei alte Frauen mit schwarzen Kopf-tüchern sitzen auf einer Bank. Eine spricht mich an, redet von Geld. Vielleicht will sie betteln. Manchmal sind Sprachbarrieren auch ganz schön praktisch. Mitten auf dem kleinen Platz mit den Bänken steht ein gedrungener Uhren-turm. Aus einem alten Haus daneben dringt Klaviermusik. Klassik. Eine seltsame, aber wunderbare Idylle. Sehr beruhigend. Hier läßt es sich gut verweilen. Dennoch: Leben in hinreichender Mannigfaltigkeit.
Da fällt mir ein, daß mein Magen auch einmal wieder zu sei-nem Recht kommen müßte. So gehe ich halt weiter. Komme an einer Kirche vorbei. Ich möchte kurz hineinschauen. Sie ist überreichlich mit Blumen geschmückt. Vorne sitzen Leute zum Gebet. Schlurfende Schritte stören das Zeremoniell. Die Leute drehen sich - mißbilligend? - um. Auch ich empfinde es als eine Störung. Doch vorschnelle Empfindlichkeiten sind nie gut. Jetzt kann ich den Mann sehen, der so schlurft. Er scheint ein Hüft- und Beinleiden zu haben... Also voreilige Mißbilligung, zumindest meinerseits.
Männer bringen einen Sarg herein. Darauf haben die Leute wohl gewartet. Deshalb diese Musik in Abwechslung mit der Ruhe. Glockenschlag! Leben beginnt und endet. Ohne Ende kein Anfang. Ohne Leid keine Freude. Immer wieder der Kampf um dieses Begreifen. Ich gehe wieder hinaus und setze mich auf die Steinstufen, die zur Kirche hinaufführen. Fühle mich aber fehl am Platze, selbst in der äußersten Randzone des doch nach meinem Dafürhalten sehr privaten Trauerzere-moniells. Ich mache jetzt wohl besser Platz auf diesen Kirchenstufen...
Nochmals schaue ich kurz zurück in die Kirche, stehe in der Türe. Ein alter Mann ist es, den sie trösten. Er wird nun wohl alleine sein - oder auch nicht, wenn die Umarmungen und Küsse der Trostspender echt waren, ich meine, wenn sie aus wirklichem Herzen kamen. Der Pfarrer singt von "bella donna", es hört sich an wie ein fröhlicher Schlager. Ganz anders als die Trauergesänge in den deutschen Kirchen. Eine schöne Stimme. Nur - die Tote kann es wohl nicht mehr hören. Jetzt schließt ein Mann die Türe. Er entschuldigt sich und bittet mich, doch in den Innenraum zu kommen. Doch weiter möchte ich wirklich nicht stören, in die Privatheit eindringen. Auch wenn mir die Reaktion des Fremden zeigt, daß es nicht so empfunden wird. Das Ganze berührt mich. Ich muß weiter.
Blumen und Pflanzen auf den Dächern, auf Simsen, fast woimmer man blickt. Alt und neu improvisiert, aneinander-gebunden. Wohnsilos neben niedlichen Wohnhäusern. Ein riesiges Holztor zwischen zwei schönen alten Häusern! Da fällt mir Martim ein. Dieser an der Wirklichkeit stets leidende Schreiner. Aber ich denke an ihn nicht nur wenn ich Holz sehe...
Weitgehend Ruhe in den Nebenstraßen und Gassen, Trubel an den zentralen Stellen - insoweit ist Benedetto gleich anderen italienischen Städten.
Heute werde ich mir noch ein gutes Essen gönnen. Danach nochmals ans Meer und Abschied nehmen. Vielleicht läßt sich auch Karla dort sehen. Ich werde wieder ans Meer kommen: mit dir, mit dir, mit dir. Bei diesen Gedanken stehe ich erneut an der Ausfallstraße - wie gestern bei der Ankunft, jetzt aber ohne Rucksack. Warte aber genauso lange...
In einem Fischrestaurant bestelle ich: Meeressalat als Vorspeise, gemischte Fische und Salat als Hauptgericht. Dazu einen ganzen Liter Mineralwasser. Die Sonne hat mich ausgelaugt. Das Restaurant ist angenehm leer. Ich fühle mich wirklich gut und lasse mir beim Essen viel Zeit. Auch deshalb, weil ich im Fischessen ungeübt bin und einen Heidenrespekt vor Gräten habe. Doch es geht alles gut.
Es fällt mir nochmals der Mann aus Ulm (Schlafwagen!) ein. Nicht der Tote, der Erzählende. Wie er von seinen Kindern sprach. Drei sind auch im Lehrerberuf und eine wohnt zur Zeit in Rom zusammen mit ihrem Mann in der Villa Massimo. Die läuft ganz ausgeflippt herum, so sagte er. Ihr Mann wäre auch so einer, moderne Architektur und so. Gelernt bei dem, der die Münchner Olympiadächer entworfen hat. So richtig ausgeflippt seien die. Ihm wäre schon bange, sie zu sehen. Sagte es - und ein Hauch von Stolz zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab! Fiel mir gerade beim Schreiben so ein. Gedankensprünge. Vergleichsangebote.
So sitze ich also wieder am Meer und schreibe all dies, auf meinem riesigen Felsblöcken. Wie groß ist riesig eigentlich? Der Platz vor der Felsenanhäufung bleibt heute jedoch leer. Nur der Sand, nur der leise Wind, nur die plätschernden Wellen. Nicht einmal eine Katze ist zu sehen...
Gleich werde ich aufhören zu schreiben und mich meinen Träumen hingeben, das Meer in den Sinnen, die Seele frei schweben lassend. Vor dem Träumen noch ein Stück Realität: Hoffentlich komme ich morgen gut weg. Ein Stück in Richtung Roma aeterna...
Dienstag
Ich habe es geschafft. Obwohl ich schlecht geschlafen und wirres Zeug geträumt habe. Dafür: Sonnenaufgang am Meer! Danke! Einfach faszinierend. Erst die roten, von blaugrauen Streifen durchwobenen Bänder. Dann die Stille des Meeres. Die Blätter vereinzelt stehender Bäume werden von einer leichten frühmorgendlichen Brise bewegt. Immer mehr drängt das Rot nach oben, will auftauchen, seinen Weg der Auferstehung gehen. Ein Teil des Sonnenballs erscheint. Wie Saturnringe liegen dunkle Bänder um ihn. Dann - es geht schnell - ist sie voll da, sichtbar. Glutrot. Verschwunden sind dunkelnde Töne. Die Sonne ist wieder einmal mehr zurückgekehrt. Schöner kann Abschiednehmen nicht sein...
Festhalten im Schreiben? Wohl nur sehr eingeschränkt mög-lich. Denn Augenblicksempfindungen lassen sich nicht in ihrer Intensität im Nachhinein schildern. Während der jeweiligen Schreibsituation überlagern neue, andere Ein-drücke das Schaffen und bestimmen Sichtweisen mit. Und Schreiben während des Erlebens, um jene Störfaktoren auszu-schalten, brächte nur andere hervor, ganz zu schweigen von der Tatsache der Unmöglichkeit des Schreibens in vielen Situationen. Banal: wer würde schon bei strömendem Regen aus seinem Rucksack den Notizblock zücken, um den Augen-blick authentisch einzufangen? Wäre er dann überhaupt authentisch? Gibt es das wirklich: Authentizität?
Es gilt einen abwechslungsreichen und an Vielfältigkeit überreichen Tag einzufangen, einen Tag, dessen Eindrücke so überreich sind, daß sie zum Füllen eines mindestens einwöchigen Urlaubs auch geeignet wären. Fällt mir Harry Chapin, dieser Idealist, wirklich ein Mann der Tat, ein, der einmal über einen Ort gesagt hat: I spent a week there one afternoon.
Während ich dies schreibe, sitze ich in Foligno in der Jugendherberge und es ist Abend. Es war ein Tag - viel länger als ein Tag sein kann. Anstrengend und fast zu voll an Eindrücken, inneren wie äußeren. Wie soll ich das alles nur so schnell verarbeiten. Schlicht nicht möglich. Eigent-lich zieht es mich nur noch ins Bett. Bin todmüde. Trotzdem will ich schreiben. Muß ich schreiben. Wie soll ich sonst Überblick behalten? Sicherlich, was man vergißt, war nicht so wichtig - so sagt man. Spricht der Volksmund. Ich möchte aber nicht so leicht dem Volksmund entsprechen. Er hat mir zu oft unrecht.
Also nochmals: dieser Tag war für mich sehr ereignisreich und gerne möchte ich versuchen, die Dinge ablaufsgemäß festzuhalten. Was danach noch wichtig bleibt, was gar längeren Bestand haben wird, soll dann die Seele, jenes untrügliche Organ, entscheiden. Jenes Wahrheitsorgan, dem nichts gleichkommt. So wie sie sich auch für dich, du fernes Wesen meiner häufigen Gedanken, in der Zeit entschieden hat. Natürlich glaubt man im Augenblick felsen-fest: für immer entschieden hat.
Zurück zum Abschied am Morgen. Auf jeden Fall beginnt es mit einem Geduldstraining und einer Stärkungstherapie für mein Durchhaltevermögen. Dies gleich einmal vorweg. Beides werde ich wohl bestimmt nötig haben. Kann man auch als Langzeitkomponenten fürs Leben im allgemeinen gut gebrauchen.
Es fahren nicht allzu viele Autos die alte Römerstraße, einst die einzige Verbindung von Ost nach West. Aber beim Trampen braucht man Geduld, oft viel Geduld. Zeitpläne auf-zustellen ist sinnlos - es sei denn, man läßt einen großen Toleranzspielraum. Dann stimmen sie aber halt oft in ihrer Begrenzung nach oben nicht. Wie gesagt: es ist sinnlos, welche aufzustellen.
Was man braucht, ist Zeit, Geduld und natürlich ein Quantum Glück. Letzteres stellt sich aber zumeist beim Versuch ein. Erfolg ist eben ein Ergebnis der Mischung von Anstrengung, sprich Disziplin und - eben - Glück.
Und so habe ich - auch heute - alles in allem: Glück. Endlich hält ein kleiner Fiat. Sein Fahrer ist Architektur-student in Ascoli. Unterhaltung mit Händen und Füßen. Schade, daß hier nur so wenige gut Englisch sprechen können. Schade, daß ich nicht genügend Italienisch kann. So ergibt sich halt einmal mehr jener altbekannte Sprachein-topf. Und irgendwie geht es trotzdem. Sehr wahrscheinlich, weil beide die Verständigung wollen. Zwar nur auf einer gewissen oberflächlichen Ebene, aber für eine kurze Bekanntschaft reicht dies allemal. Wíe er vor sich hinlacht, als ich frage, ob sein Studium "difficile" ist. Nicht so viel Mathematik wie die Ingenieure; er arbeite mehr mit den Sinnen, mit den Augen. Und so fährt er auch: behutsam und beruhigend. Daher läßt sich obendrein die bewaldete Berg- und Hügellandschaft bewußt und intensiv genießen. Auch hier kleben einzelne Häuser, ja ganze Dörfer förmlich an den Bergen. Es wirkt idyllisch. Dort zu leben, ist wohl eine andere Sache. Wie die wohl ihren Alltag gestalten? Der Weg zur Arbeit? Wie die wohl Liebe kennen-lernen? Wie trifft sich dort die Jugend? Gibt es Jugend hier überhaupt noch, oder sind die Jungen längst entwichen, geflohen in die Städte? Wie ganz anders ist da ein Dorf bei uns! Hier viele Kilometer keine Nachbargemeinde, von Städten ganz zu schweigen.
Er ist freundlich, wie ich überhaupt vielen freundlichen Menschen begegne. Er fragt nach meiner Reiseroute und meint, ich sollte zunächst seine Heimatstadt anschauen. Die wäre sehr interessant und voller alter Römerschätze. Und dann hat er die Idee: er zeigt sie mir. Fährt mit seinem kleinen Wagen durch engste Gassen in entlegenste Winkel. Wahre Kunstschätze an Bauwerken. Nichts mit Zement. Einfach kunstvoll aneinandergesetztes Gestein. Lehm und Sand als Bindemittel. Im Laufe der Zeit fast wie Beton hart geworden. Da fällt mir Kleists Schlußstein ein. Er wankt wahrlich nicht, dieser Schlußstein...
Ich verabschiede mich von meinem netten Begleiter. Er hat mir viel gegeben, mich einiges gelehrt. Nicht nur an Wissen über den Häuserbau (auch er verurteilt die moderne, einfallslose Bauweise): es bleibt zu hoffen, daß ich Fremden gegenüber auch offener werde. Hätte ich denn jemanden bei mir daheim so herumgeführt?
Ich gehe nun noch etwas alleine durch diese schöne alte Stadt. Zuletzt Blicke auf das Marktbunt hinter den Arkaden-säulen. Diese Vielfalt an Obst, Gemüse und anderen Waren. Das Stimmengewirr ist mir wie Musik. Doch für all das Schöne gibt es auch hier den Preis zu bezahlen: sich losreißen müssen. Fußmarsch zur Ausfallstrasse, etwa zwei Kilometer.
Bis Mozzano nimmt mich ein junger Milchwagenfahrer mit. Lange mußte ich diesmal nicht stehen. Aber Konversation ist mit ihm leider kaum möglich. Ich sollte wirklich mehr für Sprachen tun!
Es war nur ein kurzer Weg, aber jeder Kilometer zählt.
Ich stehe und stehe - zumindest kommt es einem in solchen Situationen so vor. Schlimmer: es kommen kaum noch Autos. Ganz so gering habe ich mir das Verkehrsaufkommen hier nicht vorgestellt. Es wundert mich, daß keiner der vorbeifahrenden Lastwagenfahrer hält. Obwohl das Anhalten an dieser Stelle günstig wäre und sie zumeist Platz hätten. Dies gilt übrigens auch für den Rest der Gesamtstrecke.
Schließlich hält ein Gymnasiallehrer. Meine nicht gerade üppigen Französischkenntnisse werden wieder strapaziert. Auch die wären stark verbesserungswürdig, aber - und das befriedigt ein klein wenig - auch verbesserungsfähig. Faulheit rächt sich immer irgendwann. Dennoch entsteht eine lebhafte Diskussion, begleitet von genießerischen Blicken auf eine Traumlandschaft. In Italien stört die Mitglied-schaft in keiner Partei, ist man im öffentlichen Dienst be-schäftigt. Auch nicht die in der PCI, also in der Kommunistischen Partei. Es sei eine grundsätzliche Einsicht von italienischem Demokratieverständnis, daß jeder seiner ihm genehmen politischen Richtung angehören darf. Niemand nähme daran Anstoß. Aber auch hier gelte für alle Parteien, daß die Macht jeweils in den Händen einer kleinen Clique liege. Das Volk bleibe, sähe man von den lächerlichen Wahlen einmal ab, weitestgehend ausgeschlossen. Überhaupt regierten nur etwa sechs Männer die Welt. Und das dürfte nicht sein. Besonders eine linksorientierte Partei sollte mehr für die Belange des Volkes dasein. Es gäbe viele Versuche, in Richtungskämpfen diese Unzulänglichkeiten zu ändern, aber leider blieben sie bislang ohne brauchbares Ergebnis. Aber immer noch wären die Zustände besser als in Deutschland, wo noch zu wenig demokratische Tradition, zu wenig Zeit hinter aller Entwicklung stecke. Gut wären dage-gen die Schriftsteller. Aber was haben die Deutschen mit jenen gemacht? Wie seien die Herrschenden mit dem Gedankengut von Feuerbach, Hegel, Marx, Heine, Schiller und anderen denn umgegangen! Fritz Raddatz habe er gelesen. Da werde die Misere deutscher Politik aufgedeckt. Gleichschal-terei, Unterdrückung von Minderheiten und keine geistige Auseinandersetzung. Brutale Staatsgewalt. Mehr oder weniger gleichgerichtete Parteien. Eine triste Parteienlandschaft. Ähnliches habe ich schon einmal beim Trampen in Griechen-land von einem Ingenieur gehört, der in Darmstadt studiert hatte und fließend Deutsch sprach...
Und er fährt fort, daß Europa zusammenwachsen müsse. Vom Volk aus müßte es gehen, denn es werde von einer gemein-samen Idee, der Idee der Freiheit, geschoben. Von oben käme kein Fortschritt. Also müsse er von unten kommen.
In den Ferien wäre er mit Prüfungsarbeiten beschäftigt. Freizeit habe er nicht sehr viel.
Er muß die Schnellstraße verlassen, läßt mich aussteigen und meint noch zum Abschied, daß dies ein schlechter Tag für Tramper wäre, da heute viele in der Arbeit sind. Überhaupt werde diese Straße hauptsächlich nur an den Wochenenden stark frequentiert...
Und zumindest für den nächsten Abschnitt sollte er recht behalten.
Warten, warten, warten. Es kommt nicht einmal ein Auto. Auch ist die Stelle nicht sehr günstig, da es bergauf geht. Wer hält schon gerne an Steigungen! Ich würde es gewiß nicht tun. Also die ungünstige Situation verändern. Rucksack auf und entlang der Schnellstraße wandern. Ortschaft ist weit und breit keine zu sehen. Und die Sonne knallt gnadenlos herunter. Der Asphalt tut sein übriges. Endlos scheinende Gallerien laufe ich entlang. Hier könnte ohnehin niemand halten.
Das Wasser läuft in Bächen, der Durst wird quälend. Da, auf der anderen Seite, tief unter mir, ein Speichersee. Glasklar und bestimmt kühl. Nur, wer dort hinuntersteigt muß auch wieder herauf. Und Auto hält da unten auch keines. Also weiter! Wie der See lockt...
Endlich wieder eine Abzweigung. Hier kann ich stehenbleiben und warten. Hier macht es wenigstens etwas Sinn zu stehen.
Hand weit ausgestreckt, Daumen in Zielrichtung gehalten. Wenn überhaupt einer kommt. Alle von den wenigen, die kommen, fahren vorbei. Aber zumindest bleibt die Hoffnung. Endlich hält ein Wagen - mit deutschem Kennzeichen: HER. Drinnen sitzt - ich fühle mich erleichtert, weiß aber nicht genau warum - ein italienischer Gastarbeiter. Weil ich wie ein Holländer oder Deutscher ausgesehen hätte, habe er angehalten. Sonst wäre er weitergefahren. Zuviel Gesindel gäbe es heutzutage. Wenigstens sitze ich wieder im Auto!
Er will nach Sardinien; dort wohnen seine Eltern und Verwandten. Über Rom! Die Versuchung ist groß. Die Sehnsucht gar größer. Aber was brächte es schon ein? Allenfalls einen Zufall, den uns niemand abnehmen würde und all die dämlichen Unannehmlichkeiten. Sicherlich wäre ich lieber bei dir. Aber anders ist es besser. Der Italiener ist sehr belesen. Er erzählt von den Römern, die mit den Sklaven diese Straße dereinst als Ost-West Verbindung bauten. Von den Wölfen und Bären in den Bergen. Sie streifen da auch heutzutage umher. Wo sonst meilenweit nichts ist - außer herrlichster Vegetation. Die Wölfe: ganz oben seien sie. Nur im Winter, wenn sie oben in den Bergen gar nichts mehr finden, dann kämen sie herunter und könnten auch gefährlich werden. Ganz schlimm soll es im Winter 1956 gewesen sein. Seinerzeit seien sie bis in die Stadt Ascoli vorgedrungen.
Seine Landsleute? Chaotisch, ungeduldig und undiszipli-niert! Zwanzig Jahre sei er schon in Deutschland und dort hätte er noch nie Schwierigkeiten mit den Nachbarn gehabt. Gänzlich anders sei es hier. Häufig irgendwelche Querelen. Er mag sein Land, aber Deutschland ist das Land, wo er sich wohlfühlt. Dort habe er gute Arbeit und bis zur Rente wolle er auch in Deutschland bleiben. Hier müßte er sich in jeder Beziehung erst wieder etwas aufbauen. Von Anfang an: Arbeit, Bekannte, Mentalität. Einen Sinn sehe er darin nicht. Später könnte er vielleicht hierher zurück. Aber jetzt: niemals.
Ob ich mich einsam fühle, so ganz allein mit meinem Rucksack herumzuziehen?
Eigentlich nicht. Sicherlich gibt es kurze Momente, wo derartige Gefühle aufbrechen. Aber im allgemeinen bleibt hierfür glücklicherweise wenig Raum und Zeit. Ich sehe viel und lerne stets Neues hinzu. Und diesmal ist es nur eine gute Woche. Eher viel zu kurz als zu lang. Dann treffe ich immer wieder nette und interessante Menschen. So wie jetzt ihn. Dies bereichert. Der Alltag ist im Schnitt ungleich belastender...
Sicherlich: immer könnte ich so nicht leben, von der finanziellen Problematik einmal abgesehen. Wahrscheinlich nicht einmal eine längere Zeit ginge das gut. Aber was soll ich ihm das bis in alle Einzelheiten erklären? Die Gefühle wandeln sich doch ohnehin viel zu schnell, meist unvor-hersehbar.
Wie er in Deutschland lebt? Eine große Wohnung. Zwei Aquarien mit vielen Zierfischen. Dann seine Arbeit. Nach-mittags kochen, anschließend die Fische pflegen. Das sei ein großer Aufwand und mache sehr viel Freude. Schon sei der Tag vorbei. An den Wochenenden mit dem Auto ins Westfalenland. Etwas Sport, aber der FC Schalke 04 sei ihm zu schlecht geworden. So lohne Fußball nur mehr im Fernsehen. Kein Stadionbesuch mehr.
Familie? Nein, er lebe allein. Urlaube im Auto: viel unterwegs, aber abgeschirmt und alleine. Freunde? Finden sich für Reisen sehr selten.
O wie wären mir die Fische zu stumm! Der liebe Kerl! Er hat mir angeboten, daß ich auch bis Sardinien mitfahren könnte. Aber ich bleibe bei meiner ausgesuchten Wegstrecke. Die Zeit wäre für einen derartigen Abstecher leider viel zu kurz.
Bei dieser interessanten Unterhaltung kommt mir Rieti fast zu schnell, fast aber nur: denn mein Magen beschimpft mich längst schon fürchterlich. Wie konnte ich im Vertrauen auf ein schnelles Erreichen des Etappenziels auch nur auf Provianteinkauf verzichten! Derartige Fahrlässigkeit gehört bestraft. Wurde postwendend bestraft.
Ich bedanke mich herzlich und schaue ihm noch lange nach...
Viel habe ich erfahren, auch dies: früher sei es leichter gewesen, in Italien per Autostop die Ziele zu erreichen. Aber heute hätten die meisten Angst, vor allem auch die Lastkraftwagenfahrer, jemanden mitzunehmen. Es gebe zu viele Ganoven, die rauben, stehlen, vergewaltigen.
Immer wieder höre ich das. Gottseidank haben nicht alle so viel Furcht...
Nun erst einmal Rieti. Endlich (wegen des unsäglichen Hungers und Durstes)!
Eine schöne, mächtige alte Stadtmauer. Hier soll Hannibal aufgehalten worden sein. Auch wieder diese schönen engen Gassen, wie sie von anderen italienischen Kleinoden bereits bekannt sind. Kopfsteinpflaster. Alles ineinander kunstvoll verwoben - und das ganze umgeben von häßlichem Trabantenpanorama.
Aber Rieti, das ist für mich zunächst ein kleiner Laden mit einer netten älteren dicken italienischen Mama und Aqua Minerale, Coca Cola, Hartwurst, Käse sowie ein großer Laib frischen Brotes. Auf einer Bank unter einem großen Ahornbaum mundet mir mein Mahl. Nach Entbehrungen läßt es sich doppelt genießen. Irgendwie komme ich mir schon vor wie jemand, der ein Stück Wüstenweg überstanden hat und nun in einer fruchtbaren Oase sitzt. So ungefähr muß das Gefühl wohl sein.
Dann weiter. Wieder das Suchen nach der Ausfallstraße. Zu Fuß an einer Schule vorbei. Stinkende Schulbusse. Lärmende und strömende Schüler. Ich aber habe Ferien. Noch. Gleich-wohl, seit es dich gibt, empfinde ich die Kluft zwischen Schule und Ferien nicht mehr so bedrückend. Schule hat durch dich eine andere, nicht mehr so abschreckende Bedeutung bekommen. Es gibt Momente, wo ich sie in Gedanken den Ferien sogar vorziehe. Aber die sind trotz dir nicht so zahlreich, und sicherlich wird sich dieses Mißverhältnis bald wieder zugunsten lebensnaherer Einschätzung auflösen...
Neugierig und mit glücklicher Distanz betrachte ich dieses Schultreiben im Vorbeigehen. Es gilt schließlich heute noch ein Ziel zu erreichen.
Endlich einmal im Schatten eines Baumes auf Autos warten. Nach den Anstrengungen in gleißender Sonne wird dies dann sogar zu einem Hochgenuß. Einer hält und bringt mich vier Kilometer weiter. Das ging ja schnell. Dafür jetzt aber wieder ungeschützt in der Sonne. Warten, warten, warten. Das alte Spiel...
Es kommen wieder kaum Autos. Endlich hält ein alter Mann. Nur einen schmalen Schlitz weit öffnet er das Fenster: schreit heraus (ich verstehe nur wenig) und fragt zum Schluß, ob ich eine Pistole habe. Ich lache, ja, ich muß wirklich lachen. Die Situation ist zu komisch. Nein, natürlich habe ich keine. Also dann rein ins Auto. Sofort wird wieder alles verriegelt. Und dann fährt mein Opa. Und wie! Alles wird angehupt: Kurven, gerade Strecken, Bäume, grasende Schafe auf den Wiesen, Entgegenkommendes, einfach alles. Io sono polizia, meint er erklärend. Na gut. Ich würde lügen, wenn ich im Nachhinein behauptete, daß inneres Wohlbefinden diese Fahrt begleitet hätte. Der Alte ist schlicht bescheuert. Ein Arschloch. Aber wenigstens ein Arschloch, das mich mitgenommen hat. In einem Kaff hält er, bringt mir ein Bier. Will mir dann noch seinen Rest geben, weil es zu kalt wäre. Ich aber lasse sein Bier stehen. Nicht nur weil es mich ekelt! Ich verziehe mich. Mit dem will ich wahrlich nicht weiterfahren.
Ein Skilehrer hält und nimmt mich mit nach Marmara. Im Sommer arbeite er nichts, nur im Winter. Er brauche viel Freizeit. Diese Aussage bedarf bei mir wahrlich nicht näherer Rechtferigung. Wir fahren am Leistungszentrum des italienischen Rudersports vorbei. Lago di Piediluco. Dann zu den Wasserfällen. Ich stelle mir Imposantes vor. Ich spaziere dorthin und finde nur Rinnsale vor. Das ganze Wasser wird nun vom dortigen Elektrizitätswerk abgeleitet. Also kein Wasserschauspiel. Aber zum Ausruhen und kurzen Entspannen ist die Gegend allemal gut genug. Und meine Phantasie läßt das Wasser einfach strömen...
Später stoppe ich den Rest der Strecke nach Terni und weil der Fahrer - diesmal doch ein Lastwagen - mir anbietet, mich an die Schnellstraße nach Foligno zu bringen, verzichte ich auf den Stadtbummel in Terni.
An der Schnellstraße (super strada) zu stoppen, erfordert viel Geduld, das weiß ich längst. Die Autos sind meist in voller Fahrt, was ein Anhalten aus Fahrersicht - auch wegen der durch den fließenden Verkehr mitbedingten Gefahrenmomente - oft als nicht ratsam erscheinen läßt. Obendrein geht es wieder einmal bergauf. Aber welch Wunder: lange stehe ich diesmal nicht. Ein Lieferwagen. Zwei Ausge-flippte. Haben angeblich Kekse gekauft, um sie in Foligno zu vertreiben. So komme ich mit den beiden an mein Tagesziel, Foligno. Dort möchte ich in der Jugendherberge übernachten.
Chris heißt der eine, spricht fließend Englisch, da er schon ein halbes Jahr in den Vereinigten Staaten verbracht hatte. Auch hat er schon in Deutschland und in der Schweiz gejobbt. Sucht einen Bauernhof. Irgendwo. Drogen seien in Italien ziemlich verbreitet. Eine wahre Seuche. Die Jugend sei völlig unzufrieden. Nachdenken wäre nicht gerade deren Stärke. Von sich sagt er, daß er eine Ausnahme wäre. Jazzfan. Während er davon spricht, imitiert er Gitarren-griffe. Ob er selbst Gitarre spielt? Nein, aber er habe ein phantastisches Gehör. Ob ich Bruce Cockburn kenne? Nein. Also legt er ein Band von ihm auf. Wirklich gut. Diamonds in the sky. Ganz toll. Aber jetzt tauge Cockburn nichts mehr, er mache nur mehr harte Sachen. Bruce sei in Rimini gewesen und dort wäre seine akustische Gitarre verbrannt. Hohlkopf, kommentiert Chris leidenschaftslos.
Ob Chris echt ist, oder auch nur wieder einer jener Typen, die sich gerne etwas vormachen, und dabei glauben, was sie sagen? Ist mir aber auch irgendwie egal. Ich finde ihn nett, er spielt im Augenblick eine angenehme Rolle in meinem Leben, wird aber für meine Zukunft ohnehin keine Bedeutung haben. Also was soll dann sinnloses Nachdenken über Dichtung und Wahrheit? Aussagen lassen sich auch unabhängig von der Person auf Übertragbarkeit abklopfen. Insoweit gibt das Gespräch genügend Impulse. Es gilt, sie nur aufzugreifen. Einmal halten sie blitzschnell an, weil der andere auf einem Feld Hanf erspäht hatte. In kürzester Zeit ernten sie reichlich. Dieser Vorgang verrät reichliche Übung...
Das Altersheim ist das erste, was ich von Foligno sehe, weit außerhalb der Stadt. Ein häßlicher Bau in langweiliger Umgebung. Abgeschoben? Als nächstes zeigt sich der Friedhof. Auch außerhalb. Hat man den Tod als unangenehmene Unausweichlichkeit in einfachere Verdrängungssphären verbannt? Die Nähe zum Altersheim als Gesichtspunkt? Uneingestandene Geschmacklosigkeit?
Dann sind wir in Christianos Haus. Eine Oase mitten in der Stadt! Holzhaus im Hintergarten. Wild wucherndes Gras. Kniehoch. Das geschmackvolle Giebeldach schließt das Häuschen nach oben ab. Darunter ein kleiner Holzbalkon.
Matratzenlager, herumliegende Wäsche, wenig Mobiliar. Hier wohne er aber nicht allzu oft; meistens sei er in den Bergen. Dort hätten er und seine Clique ein Haus. Es gefällt mir sehr gut hier. Ich könne gerne bleiben. Ich kenne Chris noch zu wenig. Na, da sind sie wieder - diese inneren Warnsignale: ich ziehe es doch vor, in der Jugendherberge zu übernachten. Und dort trifft man auch immer wieder interessante Leute...
Er bringt mich hin. Da steht sie, ein schönes, altes Gebäude. In ein Kirchengebäude integriert, wohl eine Art Pfarrzentrum. Ich melde mich an, suche mir ein Bett und lasse mein Gepäck dort. Natürlich nehme ich - eine alte Gewohnheit - alles, was wirklich wertvoll ist, mit.
Chris hat auf mich gewartet und zeigt mir seine Heimatstadt. Ihm sei sie zu langweilig. Alles spielt sich in einer engen Straße ab. Dort treffen sie sich immer am Nachmittag und abends. Lerne einige kennen, die er stets als Freunde vorstellt. Manche warten nur auf Stoff. Sehr verwundert bin ich wirklich nicht. Daß Chris damit auch zu tun haben könnte, war für mich ohnehin nie abwegig gewesen. Die altbekannten Alarmglocken! Nein, ich möchte sie trotz der oft damit verbundenen Einschränkungen nicht missen.
Das ganze ist irgendwie eine merkwürdige Szenerie.
Chris leiht sich einen Roller aus. Der Gaszug ist kaputt. Ampeln spielen keine Rolle. Es geht aber alles gut und ich sehe eine typische italienische Kleinstadt mit einem malerischen engen Altstadtzentrum. Mir gefällt es gut. Chris erklärt interessant und gut, bringt viel Geschicht-liches mit ein und würzt das alles mit seiner Interpre-tation von Lokalkolorit. Er gibt sich herzliche Mühe. Sollte ich nicht doch besser meine Vorsichtshaltung über-winden? Ich bleibe bei meiner Skepsis. Sie läßt wirklich noch genügend Spielraum für Erlebnisqualität.
In seiner Stammkneipe trinken wir zusammen ein Bier. Er kennt einige Mädchen, über die er zu mir abfällige Bemerkungen macht. Sie seien hohl, provinzlerisch, überhaupt schlicht dumm und könnten nur "electronic games" spielen. Jene, in einer anderen Stadt ausgesetzt, könnten nichts anderes tun als hilflos weinen. Ich habe das Gefühl, daß er für dieses harte Urteil ihnen gegenüber zu freundlich war. Falschheit? Nun, zu mir war er nett und großzügig, aber wie er über seine Landsleute spricht, gibt mir zu denken. Denn es gibt sicherlich viele, auf die derartige Urteile nicht zutreffen. Letzlich kann ich es jedoch nicht beurteilen, dafür fehlen einfach Primärer-fahrungen.
Dennoch gefällt mir - so vom Gefühl her - diese Urteilswei-se nicht. Will er sich bewußt abgrenzen? Einer eigenen, letztlich kleinbürgerlichen Existenz entfliehen? Seine Frustrationen auf Kosten anderer überspielen? Wie dem auch sei...
Plötzlich taucht eine auf, die er wohl nicht "hohl" findet. Eine gute Gelegenheit, mich zu bedanken und zu verabschie-den. Schnell und problemlos.
Bin wirklich froh, in die Jugendherberge zu kommen. Ich brauche Ruhe nach diesem so abwechslungsreichen, schönen, aber äußerst anstrengendem Tag. Esse auf dem Weg dorthin noch eine Portion Spaghetti, verwechsle einen fünfhundert Lire Schein mit einem fünftausend Lire Schein; der Wirt zeigt Verständnis,lacht und bleibt herzlich.
In der Jugendherberge ist kaum jemand, so daß ich ungestört noch etwas schreiben kann. Die Stille tut gut. Ich werde bald angenehm müde in mein Bett fallen.
Die Türe geht auf und zwei sichtlich sehr gut aufgelegte Mädchen kommen mit ihren Rucksäcken herein. Sind gleich recht aufgeschlossen und sehr redefreudig. Der schwäbische Dialekt verrät ihre Herkunft, Ulmer Gegend. Beate und Marion. Die Namen erfahre ich jedoch erst viel später, wie ich überhaupt auf meinen Reisen festgestellt habe, daß Namen anfänglich nicht die dominante Rolle wie im Alltag spielen. Die Gespräche sind es, die Personen langsam entfalten. Auch weiß ich aus früheren Reisen, daß man sich ohnehin im Regelfall niemals wiedersieht. Welche Bedeutung soll dann diesen - auswechselbaren - Namen denn zukommen? Entsprechend habe zumindest ich mir längst abgewöhnt, immer sogleich nach Namen zu fragen.
Eigentlich wollte ich ja ins Bett. Die Unterhaltung vertreibt Müdigkeit, verjagt frühere Intentionen. Es ging mir vorher schon sehr gut, so daß der Gedanke an eine Stei-gerung des Wohlbefindens nicht aufkam, ja unverschämt erschienen wäre. Aber ich kann nichts dafür: in mein Gemüt dringen wärmende Strahlen. Die Kraft der tausendfachen Sonne verklärt den Augenblick. Es ist als ob die Sonne der Sonnen aufgegangen ist. Im Augenblick lasse ich mich fallen. Die Nacht wird zum Tage. Natürlich werde ich weiterfahren. Zurück. Verworfen auf Notwendigkeiten einer bescheidenen alltäglichen Existenz. Wie, wann und warum: das hat jetzt keine Bedeutung. Wir reden und reden und reden. Wir drei den Alltäglichkeiten in der Euphorie des Fernseins Entrückten! Was sollen schon Schlaf, Deutschland, Alltag, Widrigkeiten! Wie unendlich weit das alles plötzlich ist! Unsagbar weit. Glanz der tausenfachen Sonne...
Jahresrückblick
Um die Mundwinkel kräuselt sich wieder einmal mehr der Ausdruck von Warmherzigkeit. Eine seltsam anmutende Mischung von Dankbarkeit, Milde und Realitätsverkennung. Zurücklehnen und sonnen im Mikrokosmos selbstgefälliger Reminiszenzen - Aufzeigen einer beinahe bis zur Unkenntlichkeit verbogenen Alltagsstruktur. Sicherheits-halber, wenngleich in diesem Fall gewiß unnötig, lenken Getränke, Weißwurstschüssel und bäuerlich garnierte Brotkörbe die Gedanken in Richtung Magenschlünde.
Lobverteilung in fast alle Richtungen, gleich einer Pfaffenkultur, die in abundantem Überschwang und grenzen-loser Großzügigkeit mit dem Weihwasserbesen herzlos unspezifisch Güte mimt.
Doch auch ein Hauch von Selbstkritik als Zeichen demokra-tischer Gesinnung: eine Orgie - die Notwendigkeiten verkennende, jene weit unterbietende und mißachtende, Wort-hülsenakrobatik.
Führungskraft suggerierende Pose endet in exhibitionisti-scher Nacktheit, gleichwohl deshalb noch unerträglicher, weil von vielen als Akt majestätischer Gestaltungsorgasmen verkannt. Dadurch vermeintliche eigene Größe durch Unter-ordnung und Selbstverleugnung.
Diese Nacktheit verkommt zu einer Gigantomanie kollektiven Schwachsinns. Ein Stelldichein von Amöben, die sich ihrer trüben Umgebung rühmen und innerhalb dieser rigiden Grenzen Kreativitätsgebete murmeln, ähnlich alten Weibern, die in diesseitsabgewandten Fügsamkeitsverhalten in der Hoffnung auf Horizonte im Jenseits endlose und sinnlose Rosenkranz-floskeln abspulen. Fließbandarbeit sich ihres Verstandes längst entledigt habender Kreaturen.
Und weiter trieft Warmherzigkeit, mischt sich in den Sekt der längst gefüllten Kelche. Auf die Vergangenheit und auf die Zukunft! Gegenwart wohlweislich ausgenommen. Denn sie könnte vielleicht zu einem Zerrspiegel entarten, Fratzen enthüllen, vielleicht gar Amöben beleidigen...
Es lebe die Eintracht! Kampf dem Hinterfragen! Einigkeit! Recht und Freiheit! Sprachbesänftigungen. Aber vor allem: weiterhin einen guten Schlaf! Auf ein Wiedersehen nach langen Ferien zu einem neuen kollegialen Jahr der Zusammen-arbeit.
Legehennenbatteriensyndrom!
Das Komitee
Wichtigstes steht zur Entscheidung an. Es geht um die Zukunft des Menschengeschlechts. Um nichts mehr oder weniger als um das Sein oder Nichtsein der Moral. Man sieht sich in Verpflichtung. Wähnt sich in Jahrhunderte alter Tradition. Christlichkeit als Lebensmaxime!
Dabei ist das Problem irgendwie uralt. Nur diese Unmittelbarkeit der Bedrohung hat man in dieser Oase katholischer Geradlinigkeit bislang nicht wahrnehmen müssen. Doch jetzt, im Jahre des Herrn 1994, muß es mit der vornehmlich klösterlich getragenen Zurückhaltung vorbei sein. Schließlich hat Satan vehement und hemmungslos an das Portal geklopft. Sich eingeschlichen dann auch noch!
Im Herzen des gigantomanischen Steinkomplexes, dessen Hüter sich der Mitmenschlichkeit verschrieben haben, werden fürderhin die zentralsten Leidenschaften menschlicher Exi-stenz gottgewollter Urteilskraft unterstellt.
Jene Savanorolas der Neuzeit treffen sich ab jetzt, wann immer die Notwendigkeit sie zwingt. Zwingt zu wachen, zwingt zu wägen, zwingt zu richten.
Hier ist man gut. Tut ausschließlich Gutes. Muß man letztlich auch. Schließlich zählen Behinderte zu den Ärmsten unserer ach so aufgeschlossenen Gesellschaft. Wer in einer immer materialistischer werdenden Welt findet für jene über-haupt noch Gedanken, geschweige denn Zeit? Für viele auch das einzige Zuhause, das jemals möglich wäre. Nabelschnur kümmerlichen Lebensquells. Aber Leben wenigstens! Angegliedert ist diesem Riesenkomplex perfek-tionierter Mitmenschlichkeit eine Sonderschule für Lernbe-hinderte.
Zumeist weltliches Personal, von einem Freistaat an den kirchlichen Träger ausgeliehen. Gastarbeiter des Geistes.
Doch dieser Vergleich trügt in mehrerlei Hinsichten. Denn Gastarbeiter werden vom jeweiligen Arbeitgeber, dem sie zu Dienste sind, entlohnt. Hier zahlt jedoch der Staat, die Kirche nimmt und bestimmt dafür. Eine nie versiegende Quelle für den leider nur allzu erfolgreichen Versuch, einer Trennung von Staat und Kirche entgegenzuarbeiten. Aber dem Staat, diesem anonymen Moloch der Sittenver-waltung, ist es nur recht. Hat er doch selbst auf seine Fahnen die Achtung und Ehrfurcht vor Gott, der sich alle Bürger gefälligst zu unterwerfen haben, geschrieben, sich dabei scheinheilig pluralistisch in akrobatischem Bemühen allem Guten, Wahren und Schönen verpflichtet. Was immer dies auch konkret sein soll...
Jedenfalls eine nicht verallgemeinerungsfähige Festlegungs-versuchung, weidlich beansprucht von jenen Kreisen, die alleinseligmachende Weisheiten zu kennen glauben.
Hat eben dieser Staat doch keine Probleme, seine Belange, obgleich sie einer pluralistischen und neuerdings multi-kulturellen Gesellschaft entsprechen sollten, mit denen seiner Kirche zu verschmelzen. Modernes Staatskirchentum, dessen Glockengetöse das vorsichtig mahnende Anklopfen grundsätzlicher Bedenkenträger niederkämpft.
Doch auch die Kirche nimmt ihrem Staat, der sie so feist und fett genährt läßt, Arbeit ab. Arbeit, für die sich sonst wohl niemand fände. So zumindest das immer wieder gern vorgetragene Argument. Interessen verdecken, Interessen durchsetzen!
Wer soll Hilfe erhalten, wenn Plätze knapp werden, Mittel begrenzt werden müssen. Setzt sich dann weiter die Gier nach Einflußsphären durch, oder wird dann - gleich den in kindgemäßer Naivität tradierten kirchlichen Wundergeschich-ten - menschliche Größe ihre Entsprechung finden?
Eine Antwort, vielleicht die Antwort, gibt das Komitee.
Zwei wohl etwas allzu weltliche Teile des Lehrkörpers in unserem der mitmenschlichen Güte und Größe Nahrung ver-sprechenden Humus der Herzens- und Geistesbildung zwangen zur Gründung. Nur so ließe sich Unheilvollstes verhindern.
Er, verheiratet, zwei Kinder. Sie, ledig und das Referenda-riat fast beendet. Sie verlieben sich ineinander, bekennen sich zueinander. Öffentlich. Man zieht zusammen. Leicht vorstellbar, was beide in ihren sündhaften Umarmungen alles so treiben. Er verläßt Frau und Kinder, will sich scheiden lassen. Beide unterrichten an dieser sich so christlich orientiert nennenden Institution.
Derartiges kann einfach nicht geduldet werden. Hier wurde böse gesät. Schlimmste Saat droht aufzugehen. Unkraut gilt es zu jäten. Wer hat mit diesem unsittlichen Treiben, mit jenem ehrlosen Lebenswandel angefangen. Es stellt sich wieder einmal die Frage nach Schuld, nach Bestrafung. Es gibt immer noch Plätze in Himmel und Hölle zu vergeben! Schnell wird man auch fündig, obwohl die Situation gleich einem unvorhergesehenen Gewittersturm hereingebrochen ist. Es ist die Frau! Diese Hexe der Neuzeit hat verführt. Sie muß gehen. Fort! An irgendeine andere Schule. Nur nicht hier bleiben dürfen in einem Leuchtfeuer des Christentums. Geh! Geh! Geh! Der Hahn hat längst mehr als dreimal gekräht.
Der Mann kann wirklich nichts dafür. Und wenn sie es wenigstens heimlich, wie ein anderes Sündenpaar an dieser Schule zuvor, getrieben hätten! Dann wäre es ja noch gegangen. Aber so? Nein!
Aber vielleicht ist die Entscheidung zu einsam gefallen, zu undemokratisch? Schnell wird das Komitee gegründet. Pfäfflicher Beistand, erfahrene Repräsentanten in Sachen Moral urteilen erneut. Ein Wiederaufnahmeverfahren aus schlechtem Gewissen? Mitnichten! Die Unfehlbarkeit wird nochmals bestätigt, das Urteil ein zweites Mal gefällt: Maxima culpa! Schuldig! Sie muß gehen. Er darf bleiben.
Und für alle Fälle zukünftiger Unmoral ist das Komitee präsent, schnell handlungsfähig: die Feuerwehr moralischer Brandherde. Auf daß die Moral stets moralisch bleibe. Warnung sei den Unbelehrbaren! Verbannung und Ächtung als moderner Scheiterhaufen. Wie gut, daß es die Guten gibt.
Kaum den einen Fall geschrieben, zwingt ein neuer das Komitee zum Handeln - und mich zur Korrektur. Diesmal ist es doch der Mann, der wüste Saat tief eingebettet hat. Seine Lehrkörpergeliebte schwanger und er verweigert die Heirat. Er habe es ihr auch immer gesagt. Gesagt, daß Heirat für ihn nie in Frage käme. Sie habe sich trotzdem mit ihm eingelassen. Das Komitee urteilt hart und konse-quent: Verbannung! Urteilte es auch gerecht?
Wie wir aus jenem schönen, lustentfachenden Frauenmunde unter dem Siegel der Vertraulichkeit erfahren haben: sie hätte es absichtlich auf die Schwangerschaft angelegt, um ihren Geliebten so zur Ehe zu bringen. Recht hat sie gehandelt, zumindest vor dem Hintergrund vatikanischer Ver-hütungsideologie. Es lebe die Natürlichkeit des sittlichen Verhaltens...
Der Macher
Machen wir uns doch nichts vor: allein durch den täglichen morgendlichen Blick in den Spiegel begegnen wir männlichen Geschlechtsgenossen unserem neuen (aber genaugenommen uralten) Objekt der Betrachtung schon zur Genüge. Aber davon nicht genug, wollen wir heute (wieder einmal mehr) Höchstleistung vollbringen und die Steigerungsform dieser Lächerlichkeit auskundschaften. Wir suchen also nicht irgendeine Ausprägung dieser Begierde aller Frauenherzen, sondern eine ganz besondere. Eine, die das uns bislang Vertraute zumindest an bestimmten Formen der Bizarrerie, an gewissen Merkmalen der Skurrilität so übertreffen, daß Hervorhebung durch unsere Tastatur lohnt. Ich weiß, nach schweißtreibender Arbeit und dem euphorischen Ausruf, daß es (nämlich das Werk, den Macher aller Macher herauszuschälen: gleichsam den augenblicklichen Spitzenreiter der Macherparade) vollbracht ist, kommt gewiß früher oder später (meistens leider noch früher!) irgendein flinkes Talent einher, um unsereinem mitzuteilen, daß dieses unter Mühsalen und Risiken erstellte Opus bereits wieder hoffnungslos veraltet wäre.
Aber im Vorfeld seien solche Holzklotzwerfer eindringlich gewarnt: auch das könnte Machertum sein; und bei hoher Qualität könnten sie gleichsam in persona das Objekt ihrer Spitzfindigkeit übertreffen und damit die eigene Arbeit als unerträglich rückständig ausweisen. Damit seien mögliche Kritiker auf den Weg der Behutsamkeit im Tun verwiesen.
Gleich zu Beginn wollen wir, um der Übersichtlichkeit willen, eine notwendige Eingrenzung vornehmen. Wir beschränken uns auf die besondere Fähigkeit des Buhl-verhaltens. Natürlich braucht uns niemand zu belehren, daß die Macher immer und überall zu treffen sind. Dennoch empfinden wir es als besondere Köstlichkeit, mit unserer vorgenommenen Einschränkung in den wesentlichen Kern weithin angenommener menschlicher Aufgabe vorzustoßen, sozusagen in media res. Weitere Einschränkungen und vor allem auch Beschränkungen ergeben sich bei der Entfaltung des Beobachtungsobjekts naturgemäßerweise und wie von selbst.
Unser Macher buhlt subtil. Ein Subtilbuhler. Er ist in dieser Hinsicht kein plumper Mensch: er zielt nicht unmittelbar auf Verführung, sondern wählt den Weg der Selbstdarstellung, dies in der drängenden Hoffnung, als Folge weiblicher Bewunderung dann der Auserwählte aus einer schier endlos erscheinenden Reihe von Mitbuhlern zu sein.
Seine Leidenschaft ist die Erzähltechnik. Hier hält er sich für meisterlich und läßt auch sein in Drucksituationen auf-kommendes Stammeln nicht als Wertminderung gelten: er nennt derartige Sprachstörungen seine Überlegenheit an gedankli-cher Vielfalt, die wegen der enormen Wichtigkeit aller Denkströme unmittelbar und gleichzeitig nach außen drängt. Hier vermag er bereits eine erste deutliche Abgrenzung zum Durchschnittsdiskutierer zu ziehen. Die Tiefe seiner Kommentare verrät die Ernsthaftigkeit seiner Anstrengungen durch Vermeidung schneller Oberflächlichkeit. Sieht er einen Film, den er als Meisterleistung irgendwelcher Art erachtet, vermeidet der Macher lange Zeit Detailaussagen. Vielsagend lächelt er zunächst in die Runde gebannter möglicher Mitdiskutanden. Nach bedeutungsschwangeren Pausen entlockt er sich Aussagen von höchstem Beachtungswert: Wahnsinn; da weißt du nicht mehr, was du sagen sollst; für diese Klasse fehlen einfach die Worte; das mußt du erst einmal gesehen haben...
Er wird zuweilen auch volkstümlicher, wenn er nach vermeintlich existentieller Durchdringung nur mehr einfach feststellen kann und muß: da schnallst du ab.
Ehrfurchtsvoll die Reaktionen jener von ähnlicher geistiger Provenienz. Wer ihn jedoch einmal einen ganzen Film hat er-zählen hören oder gar ein Gedicht von ihm vorgelesen bekam, der wird die Kürze und inhaltliche Stille seiner Kurz-kommentare erst zu schätzen wissen, ja sich gerade nach dieser banalen Form geistiger Auseinandersetzung zurücksehnen.
Auch auf allen anderen Ebenen möglicher intellektueller Auseinandersetzung vermag er bei entsprechender Zuhörerschaft Eindruck zu erwecken. So erkennt er blitz-schnell, was politisch, soziologisch, psychologisch und auf all den anderen Feldern vielfältiger Ischmen zu gelten hat. Er ist der Mann der direkten Wahrheit, der schnellen Richtigkeit. Lange oder gar zweifelnde Ausführung sind ihm ein Greuel, verraten sie doch nach seinem Dafürhalten in erster Linie Inkompetenz. Und die kann er nicht ertragen.
Hat er doch schon in früher Jugend bewiesen, wie man sich von Mama und Papa löst, in einer Einzimmerwohnung eine Zweimann Wohngemeinschaft gegründet und dort die Vielfalt eigenständiger Häuslichkeit gelebt. Streng achtete er dabei darauf, nicht zum Stubenhocker zu degradieren - dies wäre ihm zu bürgerlich gewesen -, sondern suchte die Nähe zu sozialem Engagement in den üblichen Wirtshäusern und soge-nannten In-Kneipen. Beizeiten, man kann auch sagen stets rechtzeitig nach dem Motto: immer einen Schritt zuerst in diesem Mikrokosmos nach Persönlichkeit ringender Kleinstadtmentalitäten, fuhr er Motorrad und ein altes VW-Cabrio (in dieser Reihenfolge und teilweise gleichzeitig). Der Leser ahnt es schon: der obligatorische VW-Bus mit dem Atomkriegsgegnerzeichen auf der Frontseite löste jene Phase gerade so rechtzeitig ab, daß provinzielle Nabelschau ihn wieder ganz vorne als Avantgarde in diesem Unterzentrum mit möglicher Mittelzentrumsfunktion sehen konnte. Die üblichen Billigurlaube (wobei ich wirklich nichts gegen preiswerte Urlaubsgestaltung gesagt haben will!) in angrenzende und auch weiter entfernte Länder ergaben sich wie von selbst. Amsterdam lockte auch damals schon mit seiner Haschisch-attraktion (bei Rückkehr waren es selbstredend nur die schönen alten Häuser und die faszinierenden Grachten, die Ziel und Sinn des Besuchs ausmachten), Griechenland wurde als das Mekka des Aussteigertums entdeckt, lange nachdem bereits eine landschaftszerstörerische Tourismusindustrie aus den meisten ehedem idyllischen Fischerdörfchen am Meer Bettenparadiese für Sonnenanbeter gemacht hatte. Aber wie so oft, genügte auch hier die Vorstellung sich selbst, wuchs die Fähigkeit zu perfektioniertem Selbstbetrug.
Hier wurde jeweils nach Urlaubsrückkehr eine detaillierte Schilderung sozialer und wirtschaftlicher Analysen dem staunenden Kneipenkreise vorgelegt. Zwar war sprachlich niemals tiefergehende Verbindung zu den Einheimischen mög-lich, aber er setzte auf seine Intuition. Schließlich war man Meister in der Verbindung von freakischem Aussteiger-gebahren und verantwortungsvollem Erneuerungsengagement hinsichtlich der Besserung des Schicksals ausgebeuteter Massen. Man kannte diese Probleme, sie saßen tief im eigenen Inneren: regelrecht gefressen hatte unser Macher einschlägige Bücher. Wie er überhaupt ein Bücherwurm war und (höchstwahrscheinlich) noch ist. Der Inhalt von Büchern erhebt ihn über den dumpfen, von Einfältigkeit umfangenen Durchschnittsbürger, verleiht ihm das Gefühl geistiger Vor-herrschaft.
Nur mit Ekel und Abscheu erinnert er sich an seinen ersten Versuch mit weiblicher Wohngemeinschaft. Statt mit neuer und erhoffter anregender Lebensgestaltung konfrontiert, sah er sich bald einem strickenden und fernsehkonsumierendem weiblichen Pummelchen gegenüber (so seine Einschätzung), die seinem unermeßlichen Drang nach geistigem Ausbreiten Stacheldrahtzäune zu ziehen drohte. Was half es, wenn er diesem häuslichen Versuch an Einschnürung mit allen Mitteln seines Einfallsreichtums entgegenzuarbeiten trachtete. Er flüchtete in den Garten, legte Gemüsebeete an (sozusagen als Vorbote der kommenden Ökobewegung), engagierte sich in einer leicht grün angehauchten Bürgerinitiative (damals in der Provinz noch eine kleine Revolution), schrieb eine Unmenge an Leserbriefen (ein geringer Teil wurde sogar veröffentlicht) und betrieb eine berufliche Fortbildung: Besuch einer Technikerschule.
Er hatte die mittlere Reife (nach dem Scheitern auf einem Gymnasium und auf einer staatlichen Realschule) endlich an einer privaten Handelsschule abgeschlossen. Im Anschluß daran die Lehrzeit bei Siemens. Hier zeigte er als Jugend-vertreter schon sehr früh die Neigung zu Öffentlichkeits-gestrampel. Er war und ist: Aufsteiger. Soziale Niederungen kann er nicht ertragen. Auch gibt ihm der Besuch der Technikerschule das Gefühl zu studieren, will sagen, echter Student zu sein. Mit der Verbreitung dieser Neuigkeit ward ihm einschlägige Bewunderung erneut zuteil.
Zurück zu Pummelchen. Besonders dumm empfand er sie, wenn sie es wagte, seine geistigen Ergüsse zu hinterfragen. Der geistvolle Mensch versteht, ohne einfältig nachzufragen! Als sie ihm einmal entgegenhielt - er hatte einen gerade fertiggestellten Leserbrief in häuslicher Küchenrunde mit genüßlichem Erfolgsgefühl vorgetragen -, dieser Brief wäre unverständlich, zwang ihn die Fülle seiner Gedanken und der Grad der eigenen Empörung einmal mehr zu den bekannten Stammeltiraden. Dummerweise haben auch andere Anwesende diesen Brief nicht verstanden. Jedenfalls war es nun aller-höchste Zeit, diese unselige häusliche Gemeinschaft mit all ihrem imageschädigendem und nörgelndem Hintergrund aufzu-lösen...
Nach all dem bislang Gesagten könnte man meinen, unser Macher arbeitet nur mit dem Kopf, sozusagen der reine Theo-retiker. Weit gefehlt. Gerade auf dem Feld der Praxis vermag er generalstabsmäßige Spitzenleistungen zu erbrin-gen. Dabei soll neidlos anerkannt werden, daß er auf dem Sektor handwerklicher Fertigkeiten schon einiges bieten kann. Auch hier verschreibt er sich dem von ihm je nach Notwendigkeit als letzten Rettungsanker inmitten selbstgeschaffener geistiger Brachinseln gelobten Aller-weltsmotto: Mut zur Lücke. Sorgfalt bleibt jedoch dann des öfteren zugunsten von Pragmatik auf der Strecke, was sich bei eigenmächtiger Verlegung von Stromleitungen als nicht gänzlich ungefährlich erweisen mag. Auf einschlägige Fragen weiß der Macher ebenso einschlagende Antworten, so daß Nachfragen sich erübrigt. Einmal hat er über seinem großdimensioniertem Bett unterhalb des an der Wand befestigten Bücherbrettes drei Lesestrahler angebracht. Schließlich gehört die gedankliche Zukunft schon beim Aufnehmen der Grundsubstanz gebührend ausgeleuchtet. Weil aber die Kabel an zwei Stellen bereits auf zu langer Strecke ihres Isolationsmantels beraubt waren, konnte man bei entsprechendem Wunsch oder bei Versehen den Strom durch direkte Tuchfühlung genießen. Ein neues Kabel zu verlegen verbot sich der Macher selbst aus mehreren Aspekten der Ökonomie. Nach der Gefährlichkeit dieser Konstruktion be-fragt, meinte er nur, daß er ja wisse, daß man da nicht hinlangen dürfe und - mit vielsagendem Schmunzeln -, daß andere in diesem Bett nächtigende Personen keine Zeit zum Fummeln (seine Worte) an Kabeln fänden.
Wie er überhaupt im Umklemmen elektrischer Anschlüsse mehr auf Zeit, also auf Tempo, setzte; es galt das jedermann bekannte Motto: Zeit ist Geld. Wie wahr dieser Satz doch ist! Denn das obere Stockwerk in diesem alten Haus aus den fünfziger Jahren hatte ihm ein früherer Freund vermittelt, der das Erdgeschoß bewohnte. So wie alles alt war an diesem Haus, so war es auch die Anschlußdose für die Telefone. Der Macher zeigte immer eine unvorstellbare Schnelligkeit und Gestaltungskraft (konnte auch so obendrein den Sinn seiner Ausbildung als Fernmeldemechaniker beweisen), wenn die Haustüre unten ins Schloß fiel und auf diese Weise das Aus-gehen des unteren Mitbewohners anzeigte. Der Macher entschuldigte sich kurz - stets mit seinem bekannten stereotypen, vermeintlich vielsagendem Gegrinse (wie man es aus billigen Kriminalfilmen kennt) -, holte einen zweiten Telefonapparat (ein Kompensationsgeschenk des Weltkonzerns, wie er beim ersten diesbezüglichen Vorfall aufklärend kommentierte), nahm die nicht verplombte Plastikkappe der Anschlußdose ab, und schloß mit zwei vorbereiteten Anschlußkabeln den Apparat zum Führen diverser Ferngespräche über fremde Zahlstränge an. "Das merkt der gar nicht, der steht ohnehin in meiner Schuld!", war der begleitende und wohl als Versuch der Rechtfertigung zu wertende Kommentar, als ich erstmals mit dieser Vorgehensweise konfrontiert worden war. Ich wußte damals nicht, was ich mehr mit Aufmerksamkeit belegen sollte: die Dreistigkeit der Vorgehensweise oder die Dummheit (oder gar Unverschämtheit), andere mit diesem Wissen zu belassen.
Nun: Wissen kann nicht nur Macht, sondern auch Aufklärung sein. Der Macher war von da an in meinen Bereichen immer unter Aufsicht.
Wie er auch selbst Aufsicht ausübte und dabei dann auch Zeugnisse vergab. So zum Beispiel über die Tauglichkeit einer Teilnahme zu einer Weltreise. Damals hatte Pummelchen noch die Ehre, sich dieser Schwierigkeit unterziehen zu dürfen. Zusammen mit noch einem Herren, einem besonders eitlen Exemplar der männlichen Schöpfungsgattung, durften die beiden Freundinnen auf einer Parisreise zeigen, was - reisemäßig gesehen - in ihnen steckt. Sie haben verloren. "Wer nicht einmal ein Stück Brot kaufen kann, den nehme ich nicht mit auf die Weltreise!" so der trockene Kommentar des Machers. Damit ist bereits verraten, was ein Höhepunkt in der ganzen Macherei darstellen sollte: eine Weltreise. Die Vorbereitung war gründlichst. In der Wohnküche hing eine Weltkarte, auf der in monatelanger Planungsarbeit bunte Fähnchen in generalstabsmäßiger Kleinarbeit gesteckt wurden und so jedermann Auskunft über den Stand schwierigster Unterfangen geben konnten. Auch die Ausrüstung war vom Feinsten, sorgfältig ausgewählt bei den bereits damals wie Pilze aus den Böden schießenden, gleichermaßen sachkundigen wie geldsüchtigen Experten für Outdoorunternehmungen, Survivalwagnisse und Expeditionen in die Wildnis. Daß der umfassende, einschlägige Bücherkonsum sich auch bei dieser Vorbereitung an Quantität nur noch mit dem Aufwand für betriebene medizinische Vorsorge messen konnte, spricht für die beispiellose - und sicherlich für so manche Tourismus-ritter nachahmenswerte - Gründlichkeit des Nestflüchter-verhaltens. Nachdem die beiden Frankreichversagerinnen aus-gemustert worden waren, konnte nach menschlichem Ermessen wirklich nichts mehr schief gehen.
Über die Vorbereitung läßt sich fast mehr sagen als über die Reise selbst. Noch nie wurde soviel Post von den beiden Abenteurern verschickt: selbst der Zahnarzt, der beider Zähne weltreisetauglich geschmirgelt hatte, bekam die obligatorischen Karten. Viel Zeit wurde in ausländischen Goetheinstituten gesessen, um sich über Land und Leute, vor allem aber auch über die Geschehnisse in der fernen Heimat zu unterrichten. Man ließ sich Bücher nachschicken, schickte mehr oder längere Traktate über die eigene Gedankenwelt zurück, stritt sich dann rechtzeitig, trennte sich konsequenterweise (wie überhaupt der Macher Konsequenz als sein Markenzeichen ausgibt), fuhr dann wieder zum Onkel in den USA, arbeitete dort auf der Farm und fand dann abschließend in New York Unterkunft und Gelegenheit für weitere Fotostudien, als man glücklicherweise den dortigen Hundefriedhof entdeckte: so lassen sich Abartigkeiten aufzeigen, Abgrenzungen vornehmen...
Der Rucksack stand eines Tages, lange vor der ursprünglich festgelegten Zeit (auch Weltreisen werden von dem Macher von vornherein durch Anfang und Ende definiert), vor der Türe und verursachte zwar keine Überraschung, aber dafür leichtes Erschrecken. Denn es ist nicht sehr erbaulich, auszuhalten, wenn der Macher anfängt, sich zu recht-fertigen...
Besonders tragisch geriet der vorzeitige Reiseabbruch nicht wegen der großspurigen Ankündigungen, schon gar nicht wegen etwaiger entgangener Bereicherungsmöglichkeiten (letztlich dürften die Innenräume der Goetheinstitute sich in allen Ländern der Welt nicht sehr unterscheiden). Nein, das Schlimmste, die Sache, die alles zum Desaster gerinnen ließ, war etwas anderes.
Das so kläglich durchgefallene Pummelchen, dieses kleine schwächliche Wesen, machte sich auf eine Riesenreise, trennte sich auch von ihrer Begleiterin und blieb, und blieb, und blieb. Viel länger als unser Macher blieb sie fern der Heimat und lebte dort das Leben unter Einheimi-schen, mied jegliche Verbindung zum fernen Deutschland, zur fernen Mikrowelt des Unterzentrums. Schrieb kaum Briefe, saß nicht in Goetheinstituten. Lebte einfach den Augenblick, vielmehr: die Augenblicke. Schien schlicht zu genießen.
Der Macher, einmal in einer frohsinnigen Runde später auf diesen Sachverhalt angesprochen, wurde ernstlich böse und bestritt auf auch bei ihm nie vorher erlebte energischste Art, daß die nach sorgfältiger Prüfung gewogene und für zu leicht befundene Eleve länger im Ausland gewesen wäre.
Feigheit oder die Furcht, der Macher könnte einen Vortrag über die Notwendigkeit des Neuverständnisses hergebrachter Zeitstrukturen halten, ließen alle Anwesenden sich schmun-zelnd in ihre Innerlichkeit fliehen. Es ist halt schon ein gewaltiger Unterschied - um aus des Machers eigenen nicht allzu fernen Übungsreisen zu berichten -, ob man tagelang in einem Zürcher Café sitzt und Hesses Glasperlenspiel liest oder ob man in das Treiben fremden, ungewohnten Stadtlebens eintaucht. Ob man sich an irgendetwas festhält (ein Buch wirkt da immer gut, vermittelt es doch obendrein so manchem den Eindruck von Intellektualität), oder ob man seiner Unsicherheit freien Lauf läßt und so Möglichkeit für wirkliche Bereicherung schafft.
Der Macher hat keine Zeit, innezuhalten. Er muß immer machen. Machen, weil Machen Eindruck macht. Sozusagen der Eindruckmacher. So macht er eine Familie, macht ein Haus, macht zwei gleichberechtigte Mitarbeiter zu seinen "zwei leitenden Angestellten unter mir", damit auch noch - trotz wirklich gewachsener beruflicher Herausforderungen - Zeit zum Machen in der Freizeit bleibt. Er macht Beziehungen, macht Freundschaften, macht, macht, macht. Innehalten wäre wie ein angstauslösender Spiegel. Zwänge ihn, sich festzuhalten. An einem Buch, an einer Person, an einem Besitzstand, an einem Vorzeigeobjekt. Der Macher macht selbst dann noch, wenn eigentlich längst andere für ihn "gemacht" haben. Wenn andere verändern, hat der Macher es bewirkt. So kann er stehen. Braucht nicht zu sinken. Kein Wanken, solange der Macher macht. Keine Kraft, einfach wenigstens einmal nicht: zu machen. Vor allem macht er Sätze und Aussagen. Von erfrischender Aussagekraft und Klarheit.
Oder wer will ihm widersprechen, wenn er feststellt: Wenn du auf Reise bist, dann bist du auf Reise? Wer kann Stimmigkeit anzweifeln, wenn er während eines Kneipenauf-enthaltes der Authentizität verfällt: Ich sitze da, trinke mein Bier, höre, wie es draußen scheppert, denke, jetzt hat es gescheppert, laufe ins Freie und sehe, daß es gescheppert hat - ein Autounfall?
Nein, er ist der Macher des kurzen Weges und des schnellen Ziels! Und wenn er bislang in all seinem Machen nicht gestorben ist, dann macht er auch noch heute...
Die Umweltmamsell
Kennt man sie, möchte man sofort voreiligerweise die Überschrift verwerfen. Mamsell assoziiert gerne und - auch wieder etwas vorschnell - Behäbigkeit und einen jeweils spezifisch eingeschränkten Aktionsradius. Gerne denkt man in diesem Zusammenhang an geschälte Kartoffeln, geputzte Salate, gesäuberte Töpfe und Zimmer, aber keineswegs gleich an unseren allen liebgewordenen neuen Umweltbegriff.
Sicherlich: es spielt für den verwöhnten Bürgermagen schon eine gewisse Rolle, ob Kartoffeln und Salate aus biologischem Anbau den Weg in die Schüssel finden. Auch hört der sensibel gewordene Neuökologe ungern den Aufschrei geplagten Mobiliars und leidgeprüfter Fenster, Fliesen, Badewannen, Kloschüsseln und Fußböden, werden jene mit den aggressiv-giftigen Substanzen deutscher und andersörtlicher Chemieergüsse gequält. Da hat das Image der Frau Saubermann schon eine moderate Verschiebung bezüglich Mittelauswahl erfahren. Dies gilt auch für den mittlerweile wirklich existenten, an anderer Stelle bereits ausgewiesenen, Herrn Saubermann, wenngleich die geschlechtlichen Unterschiede langsam zu konvergieren scheinen zu innerer Farblosigkeit bei dafür umso bunterer äußerer Hüllenpracht. Vorhandenen inneren Verwesungserscheinungen begegnet man durch die Pluralität industriell angebotener Duftwasser, Deostifte und Deoroller sowie diversen Püderchen.
Hier könnte fast der Eindruck entstehen, daß eine neue Form der Vielfältigkeit, ein Durchbruch des individuellen Gestaltungswillens neue Lebensqualität erschließt. Doch weit gefehlt. Man läuft wieder einmal gekonnt mit. Mainstream als Begriff haben unsere lieben Freunde aus Amerika zu dieser durchtriebenen Form der Manipulation gleich mitgeliefert, dies in der weitgehend erfüllten Hoffnung, die verbale Verharmlosung möge auf fruchtbaren Boden fallen.
Auch unsere Mamsell, die ihren Ehemann zugleich als Beweis für unsere oben aufgestellten Thesen mitliefert (ja, hier ist einmal die Weiblichkeit der dominierende Part), schwebt einher mit der Fassade ewigen Lächelns, mimt Toleranz, Einsicht und Weisheit, trägt das Banner der Welterneuerer und Retter des Menschheitsgeschlechts vor sich her und gibt sich aufgeschlossen. Dimensionslos! Aber am schlimmsten: sie glaubt es selbst. Und bei all dieser vordergründigen Akzeptanz von Verschiedenheit und gelebter Aufbruchstimmung sehen wir die drohnenden Wolken des "I'm so far behind I think I'm first"...
Gleichgeblieben ist nämlich die - sei es bewußt oder unbewußt - Penetranz, mit der die neue und als eigen empfundene Position mit diktatorischem Eifer verfochten wird. Zum Leidwesen und zur Belästigung vieler Zeitgenossen.
Wir haben also die bei unserer guten, alten Mamsell vorfindliche Akribie gegenüber Salatschnecken, Kartoffel-augen, Hausstaubmilben und ähnlichen Unerwünschtheiten nun in der erweiterten Form messianischer Anmaßungsorgasmen zur Feststellung dessen, was gut und richtig zur Rettung des Menschengeschlechts aus der ökologischen Misere ist. Die Hartnäckigkeit wird zum Dogma. Hierin gleicht wiederum die eine Mamsell der anderen.
Unterschiede ergeben sich in der Bescheidenheit: während unsere gute alte Küchenmamsell getreu dem Motto "Schuster bleib bei deinem Leisten" ihre Penibilität ausschließlich in ihrem für sie überschaubaren und weitgehend beherrschbaren Rahmen lebt, bricht unsere Ökomamsell aus ihren Bahnen, ungebremst von Einsicht um ihrer eigene Beschränktheit, und giftet (allein der Begriff verweist schon auf die Kontraproduktivität ihres Handelns!) alle und alles an, was ihren einfältigen Ökoerkenntnissen zuwider läuft. Die Ökomamsell wird sozusagen zur selbsterkorenen Übermamsell.
Derartige Menschen haben allein schon wegen ihrer Selbstbestimmung einfach glücklich zu sein. Der Hauch der Weisheit, Klarheit, Überlegenheit und Güte ersetzt nun die alte Maske der Verbitterung. Zumindest immer dann, wenn man sich beobachtet wähnt. So läuft unsere Übermamsell, das Studienobjekt unserer mosaikhaften Versuche, Wirklichkeit einzufangen, stets lächelnd durch die Räume, Korridore und Gemächer öffentlicher Selbstdarstellungsmöglichkeit. Decken kann sie vorläufig noch nicht begehen, aber man wird sehen. Der Selbstbetrug nimmt erfahrungsgemäß irgendwann auch die vertikale Dimensionen an!
Es ist wirklich schwer, sie nicht lächelnd zu ertappen. Denn in der Beherrschung ihrer Mundwinkel ist sie schnell, sehr schnell. So bleiben wir bei folgendem Bild: sie hat mit starken Haken an zwei dicken Gummischnüren, die mittels Schleife an ihren beiden Ohren befestigt sind, ihre Mundwinkel auf Dauerlächeln gesetzt. Dieses Dauerlächeln scheint ihr Vorteil zu sein, nouvelle mode de la contenance! Wo aber der Vorteil, sieht der aufmerksame Beobachter sofort dessen Gespielin, den Nachteil: das Gelb zweier äußerst ungepflegter Zahnreihen. Das Engagement scheint seinen Preis zu haben: keine Zeit für Alltäglichkeiten. Gerade denen will man als Übermamsell gerade entfliehen. Für sie, die mit Beginn der Midlifemisere nun auch das Studieren wieder entdeckt hat, sei es wissenschaftlich und warnend formuliert: das Grün in ihrer Vorstellung einer immer besser werdenden Umwelt korreliert positiv mit der Vergilbung und Verwahrlosung ihrer Zahnreihen, der Pforte ihrer Belehrungsströme...
Schon sehen wir die Gefahr der Zielverfehlung. Als zahnloser Spätemanze könnte ihr das Wohlwollen auch der zähesten Anhänger verloren gehen. Wir haben hiermit rechtzeitig gewarnt! Es wäre unverzeihlich, den avisierten Fortschritt derart leichtfertig preiszugeben, das Feld den ewig Gestrigen, zu denen wir uns nun auch zu zählen haben, zu überlassen. Weisen wir aus sehr ferner Begeisterung noch vollständigkeitshalber darauf hin: zahnlos wird der Tiger ungefährlich.
Bereits in diesem frühen Stadium möglichen Niedergangs rühren sich, wenn auch noch äußerst leise und mit sehr viel Bedacht, Gegnerschaften. Meist vorerst nur mit mehr oder weniger verborgener Schadenfreude bei kleinen Niederlagen unserer Ökohenne oder aber mit Gelächter hinter vorgehal-tener Handfläche, wenn sie wieder einmal durch falsch verstandene Emsigkeit besonders komisch wirkte.
Bahnen sich hier im Keim schon die Diadochenkämpfe örtlicher Sendapostelinnen an? Entschuldigung, meine Herren der Ökoschöpfung, natürlich wissen wir auch um eure Existenz und fügen schnell hinzu: also auch der Sendapostel.
Wir wollen jedoch nicht vorgreifen. Auch uns ist die Zukunft im allgemeinen, und hier vor allem die Möglichkeit der Entwicklung menschlicher Schwachsinnigkeiten im besonderen, sehr verborgen!
Genießen wir diesen Umstand, seien wir glücklich ob unserer Unkenntnis der nahen und fernen Dinge und vor allem drehen wir den Strick nur als letztes Mittel zur Verteidigung unserer Mikrosphäre, zum Schutz vor dem Eindringen insek-tenhafter Belästigungen. Wir lassen uns jedenfalls die sprichwörtlich bayerische königliche Ruhe nicht rauben... Vorsorglich seien hier jedermann und jedefrau (der Leser weiß um die ideologische Funktion von Sprache, er zieht Konsequenzen), und vor allem die mit dem großen "I" inmitten althergebrachter Wortlandschaft, eindringlich ge-warnt. Also ihr ÖkomamsellerInnen: hier wird die letzte Warnung verdeutlicht.
Lassen wir sie lachen und vergessen sei, daß sie, wenn unbeobachtet, und früher, vor der Entdeckung der Wiederverwertbarkeit (natürlich nennt sie das neudeutsch ausschließlich "Recycling"), konsequent verbittert einher schritt.
An dieser Stelle erweist wieder einmal: der Mensch braucht eine Aufgabe, seine Aufgabe.
So spricht sie unablässig von Glastrennung, Dosenverwertung, Papiersparen (wobei sie es nicht widersprüchlich findet, daß sie endlos kopiert, weil auf Umweltschutzpapier!), der Sinnhaftigkeit des Fahrradfahrens (gleichwohl bewegen sie und er zwei Autos häufig und gekonnt durch die Gefilde untergehender Biolandschaft) und vom guten alten Komposthaufen. Kein Wunder, daß mir hier immer wieder meine gute, alte Oma einfällt, die das alles vor vierzig Jahren schon vorlebte, und mit ihr viele, viele andere auch...
Böse Zungen behaupten sogar, daß der größte Müllhaufen sich inmitten ihrer Wohnung befinden soll. Uns vermag das jedoch nicht zu beunruhigen, wissen wir doch von dem festen Mauerwerk, das die Außenwelt weitgehend von den priva-tistischen Eskapaden zu schützen vermag. Also: keine voreilige Panik.
Neulich tat sie mir - fast - leid, unsere Ökomamsell. Aus Zeitgründen, und wegen fehlender Sympathie, muß ich ihr gegenüber mit meinem Mitleid sehr haushalten. Aber da überkam es beinahe sogar mich. Sie hatte einen Schüler aufgefordert, seine Schulhefte in das Geschäft zurück-zutragen und gegen Umwelthefte umzutauschen. Idealismus hat sich gefälligst über andere Rechte hinwegzusetzen, auch wenn es hier um das Erziehungsrecht der Eltern geht. Mangelndes Einsichtsvermögen darf vor dem Tribunal des Misthaufenkatheders nicht bestehen! Aber ihre edle Gesinnung wurde von den Eltern nicht erkannt, der Umtausch abgelehnt. Das rührt unser Herz; hier ist kollegiale Unterstützung vonnöten. Wir werden uns einen Orden für besondere Verdienste überlegen müssen. Mamsell, Du bist eine zu ehrende...
Oder sollten wir die Ehrung noch etwas verschieben, wenn wir gerade erfahren, daß bei einigen Leuten, die sich mit Umwelttoilettenpapier den Arsch putzten, Hautausschläge die Folge waren?
Wir verschieben, wir wollen Gewißheit statt Worte. Nein, Umweltmansell, du kannst und darfst von uns einfach nicht die gleiche Begeisterung erwarten, nur weil wir nicht so Spätberufene sind wie du und deinesgleichen.
Da wollen wir doch lieber nicht mitmachen. Wir haben andere Formen der Begeisterung und sehen, daß jemand, der das herrschende System gutheißt, diesen auf Warenumsatz und Verbrauch angewiesenen Moloch, diesen mit Beschäfti-gungsrückgang drohenden Tyrannen, diesen auf Gotteslohn verweisenden Pharisäer, diesen auf Masseneffekte setzenden Teufel, wer dieses System unangegriffen läßt, der kann unmöglich glaubhaft als Apologetin oder Apologet einer gesunden Umwelt einherschreiten. Wer nur am ungefährlichen Rand des Kraters herumstolziert, der wird die Tiefen niemals schauen. Was soll dieses zumeist mit bedeutungs-schwangerem Augenaufschlag vorgetragene Gerede im Stall der Unverbindlichkeiten und Harmlosigkeiten?
Da kommt doch allzu schnell das Bild der aufgeblasenen Fröschin (aufgeblasene Frösche gibt es schon mehr als genug, so auch hier nun Gleichberechtigung?) in den Sinn.
Statt derartigen Mamsellmümmelinnen und ihren androgynen Schleppenträgern sinnlos zu Dienste zu stehen, verhalten wir uns so, wie wir es für richtig halten.
Wenden wir uns unseren Trieben und unserer Lust zu, ehe die theoretisiernden Klugscheißer und Besserwisser Hand an unser kindhaftes Gemüt legen können.
Gemeinsam werden wir untergehen, dann schon bittesehr vorher noch einige Sauereien lustvoll genießen, damit es bis dahin nicht ganz so öde und leer und blöde ist.
AUFZEICHNUNGEN EINER URLAUBSREISE
Freitag
Kalt und trüb war es. Und auch noch Freitag. Der Abschied hatte längst stattgefunden. So fuhr ich los - wurde ich fortgefahren.
Augsburg - trist, düster und leer (und voller Autos). Eine Cola im Wartesaal: jeder Schluck rann durch mein Gefühl. Ob sie auch gerade trinkt?
Wann der Zug fährt? Ich weiß es nicht, denn den Zug, den einzig bestimmten, gibt es nicht. So fahre ich mit irgendeinem. Bis München. Natürlich habe ich auch wieder etwas vergessen; diesmal ist es die Landkarte.
Brauche ich überhaupt eine? Eigentlich nicht - oder? Besser doch! Also kaufe ich eine.
Rufe Wolfhard an, einen alten Freund. Dabei fällt mir ein, daß ich schon heute fahren könnte. Freitag in der Nacht. Bis zur Abfahrt könnte ich bei Wolfhard noch vier Stunden pennen. Nötig hätte ich es ja.
Ich fahre hin zu ihm. Wir unterhalten uns und ich schlafe nur eine Stunde. Auch gut. Beim Aufwachen fühle ich mich wie gerädert. Der Weg zum Münchner Hauptbahnhof macht mich wieder etwas wach. Es schneit leicht.
Der Zug nach Italien: verkehrt in drei Teilen - dennoch ist er rappelvoll. Wieder einmal eine Nachtfahrt; lange liegt die letzte zurück, höchste Zeit, wieder so etwas mitzu-machen.
Was sie wohl gerade macht?
Freitag Nacht, Samstag Morgen
Das Abteil ist voll. Zwei Italienerinnen, ein Mädchen aus Argentinien, das in Berlin in Kneipen Folkmusik und Blues spielt, ihre Cousine aus Peru, zwei Jungen aus dem Münchener Raum und ein älterer Mann, der durch übergroßes Reisenervenkostüm, immensen Zigarettenkonsum, aber vor allem auch durch ein angenehmes Maß an Freundlichkeit auffällt.
Der Zug rattert und schleicht gegen Süden. Bisweilen wird es bitterkalt im Abteil. Dann noch der eklige Zigarettendunst. Aufgewogen wird dies wenige Unangenehme durch ein in dieser Anhäufung selten erlebbares Ausmaß an Interesse, Menschlichkeit, Offenheit und Gesprächsbereit-schaft. Urlaubsidylle?
In Innsbruck erobern österreichische Saufbrüder und Radaustrategen den Waggon. So der erste Eindruck, entstanden durch die haltlose Lärmerei. Jedoch erweist sich der erste Anschein gottseidank als haltlos: sie rütteln das eingefahrene Auf und Ab etwas auf, und dies mit einem Humor, der das Wort Saufbruder vergessen läßt. Letztlich legen sie sich alle in dem überfüllten Zug auf die Gepäck-ablagen im Gang zum Schlafe.
Österreichische Paßkontrolle: alle müssen ihre Päße vorzeigen. Italienische Paßkontrolle: nur die junge Argentinierin und ihre peruanische Cousine werden aufgefordert, sich auszuweisen...
Warum ist dies so? Das weiß der Himmel. Irgendwann schlafe ich doch ein wenig. Mehr als eine Stunde wird es wohl nicht gewesen sein. In Verona, das wir dem Urlaubstempo angemessen mit Verspätung erreichen, müssen wir umsteigen. Den Kurswagen nach Milano hatten wir wegen Überfüllung nicht benützen können. Also rein in den Zug nach Torino. Der fährt aber nicht über Milano Centrale. Deshalb in Milano-Lambrate wieder umsteigen. Aber diese Fahrt war schnell und - trotz Müdigkeit - schön. Ganz alte Wagen! Doch nun sind wir endlich in Milano Centrale. Mailand! Allein der Klang drückt meine jugendliche Sehnsucht aus, nur einmal dort zu sein. Jetzt war ich da!
Einige Abschiedsworte und wir trennen uns alle. Die Mädchen wollen nach Impéria, die Jungs nach Nizza. Und ich? Ich will erst einmal zur Jugendherberge in Mailand.
Samstag
Mailand ist schön. Die Sonne scheucht den Regen. Ich bin auf den Gallerien des Domes. Ein Riesenbauwerk. Ich schaue hinunter, werfe einen langen Blick über die Dächer der Stadt.
Sie hat das einst bestimmt auch so getan. Sogar das Einkaufszentrum fängt an, mir zu gefallen.
Bei Leonardo da Vincis "Abendmahl" vergesse ich sogar die Gerüste, die zur Gebäuderenovierung aufgebaut sind. Aus anfänglicher Enttäuschung über das "blasse" Bild - immer die Überforderung der Realität durch die Erwartungsphan-tasien - wird tiefe Begeisterung für ein eindrucksvolles Gemälde. Man muß sich eben auch Zeit lassen, um die Dinge wirklich sehen zu können...
Wie schnell du dich in so einer Stadt irgendwie heimisch fühlen kannst! War da noch zuvor das etwas unsichere Suchen in einem momentan unduchdringbar erscheinendem Verkehrs-dschungel gewesen, so löst sich allmählich fast alles in Bekanntheit, Interesse, Mosaiksteine auf und formt so dann eine faszinierende Ganzheit.
Wie die Eltern, vor allem die italienischen Väter, liebevoll mit ihren Kindern spielen! Wie sie geduldsam verstehend das Interesse des Kindes im Vordergrund belassen. Der Domplatz als Lebensraum, als Kinder-spielplatz, als Oase für Erwachsene gegen die Alltagshektik. Laut, sehr laut - und doch still...
Wie sie flanieren, wie jene Menschen in kameradschaftlicher Herzlichkeit miteinander einen Tagesbruchteil des Lebens teilen!
Und wie Liebende in trauter Zweisamkeit heimlich-öffentlich die Frühlingssonne begrüßen! Stummheit hat tausend Sprachen.
Ein Kaleidoskop pulsierenden Lebens!
Hierzu gehört auch die Frau, die, auf dem rechten Knie rutschend, sich in Seitenlage mit einer selbstgefertigten Krücke mit der linken Hand hochdrückend, sich den ihr noch verbliebenen Anteil am Leben mühsam abringt. Sie nimmt sich, was sie sich noch geben kann...
Auch die Skateboard fahrenden Jungen, die in meisterhafter Beherrschung ihres Geräts unbehehelligt von Schimpf und Fluch ihre Kreise durch die Fußgängerzonen ziehen!
Die Musik auf zwei alten geflickten Gitarren, der Fähnchen- und Spielwarenverkäufer, der Eismann, all die Tauben fütternden Leute und, und, und...
Eine Ruhe - trotz lautstarker Intermezzos - und Gelassen-heit, die für einen Deutschen wohl nur schwer zu verstehen ist. Die ihm aber bestimmt recht gut tut.
Ich liege lange auf den Steinplatten des Domplatzes und lasse all diese Welten auf mich einströmen.
So gehe ich - mit gefüllter Seele - zurück zur Jugendher-berge. Ich bin müde, aber mehr als zufrieden.
Morgen wird auch sie fahren. Bestimmt wird es für sie anders sein. Um wieviel schöner es mit ihr zusammen sein könnte!
Tim aus Boston, Hernandez aus Barcelona, Magdi aus Alexan-dria und ein Italiener aus Ancona: wir führen wunderbare Gespräche - die Welt wird wieder einmal ein Stück weiter und tiefer. Wie tief wohl unser aller Glauben an diese Möglichkeiten ist?
Magdi treffe ich vielleicht morgen in Marseille wieder. Und Tim? Vielleicht auch ihn irgendwann und irgendwo...
Sonntag
Es geht weiter. Ich habe viel Platz im Zug - und somit auch viel Platz zum Nachdenken. Manchmal vielleicht zu viel. Die Landschaft fliegt vorbei. Fruchtbare oberitalienische Land-schaft. Wie verschieden doch es damals im Süden war, so gänzlich anders. Verbrannt, trocken, dürr - aber dennoch wohltuend wärmend, umhüllend.
Bemerkenswert sind die Großhöfe, riesige Bauerngüter, in ihrer eigenartigen architektonischen Gestaltung. Sie wirken sehr alt und dauernd. Die Gebäude umschließen einen großzü-gigen Innenhof. Es geht über den Po; breit liegt er da, schwerfällig fließt das Wasser dahin, so als ob es zu noch mehr Ruhe mahnen möchte.
Genua - hier leiste ich mir, trotz der Bahnhofspreise, ein Sandwich. Wie gut dieser Entschluß war, wird sich später noch herausstellen. Der Zug hat längeren Aufenthalt, aber endlich geht es doch in Richtung Ventimiglia weiter. Langsam, mit vielem Halten. Ich habe doch Zeit und kann so die Landschaft noch besser auf mich einwirken lassen.
Das Meer! Tief blau, durchbrochen vom Funkeln sich darin spiegelnder und brechender Sonnenstrahlen. Ihm gegenüber: Berghänge. Selbst an den unzugänglichst erscheinenden Stel-len haben sie noch Häuser gebaut. Das müßte eine Aussicht sein. Solch Ausblicke genießen zu können... Die können ihre Umwelt vom Thron der Natur aus betrachten.
Ventimiglia. Paßkontrolle. Mein Rucksack scheint ver-dächtig. Mein Paß wird zweimal kontrolliert. Offensichtlich sehr gründlich. Auch das geht vorbei.
Bummelzug nach Nizza. Nun kann ich endlich die fast schon legendären Plätze sehen. Ich muß mein Bild, das in meiner Phantasie gezeichnet worden war, ändern. Die Landschaft, Berge und Meer, begrenzen das Flächenwachstum der meisten Orte. Sie wirken gänzlich anders, als ich sie mir vorge-stellt hatte. Vom Zug aus erscheint alles mir irgendwie friedlicher, menschlicher und malerischer. Selbst die Hotelbauten wirken nicht so bedrohend, zersiedlerisch. Alles nur geschönt durch den Schleier des unverbindlichen Urlaubsblicks?
In Nizza steige ich um und lerne Christine kennen. Im Zugabteil. Sie studiert Sportlehrerin in Marseille und kommt aus Korsika. Wir unterhalten uns prächtig. Viel erfahre ich über Land und Leute. In Marseille fährt sie mich zu einer Jugendherberge. Dabei zeigt und erklärt sie mir die Stadt. Sie kann sehr gut und fesselnd erzählen. Ich spüre, daß Christine sich intensiv mit ihrem Land und den Leuten auseinandergesetzt hat. Wie herrlich das Chateau d'If auf den Corniche J.F. Kennedy herüber grüßt.
Hunger habe ich. Und müde bin ich auch. So suche ich ein Restaurant. Wandere ziellos ohne Karte durch Marseille. Mache mir lediglich einige Orientierungspunkte zu eigen, damit ich vor Torschluß noch rechtzeitig zur Jugendherberge zurückfinden kann. Mein Magen droht mir langsam - aber es ist kein Restaurant zu finden. Sie sind alle geschlossen. Halt! Dort ist eines, aber wie soll ich mich angesichts dieser Menschentraube ins Innere zwängen können? Denen sind die Wahlergebnisse, auf die sie lautstark und fiebernd war-ten - und entsprechend heftig sowie lauthals kommentieren - viel wichtiger als Umsätze und mein Magen. Kann ich verstehen. Die Rettung vor der Hungersnot ist ein Pizza-wagen, so eine Art Verkaufsstand. Wann werde ich endlich begreifen, daß grande nicht nur groß heißt sondern auch groß bedeutet! Einmal mehr war mein Hunger ein nimmersatter Einkäufer. Anfangs esse ich gierig, dann würge ich den riesengroßen Fladen, während ich zurück zur Jugendherberge gehe.
Als Tablett dient ein überdimensionaler Pappkarton, von dem ich mundgerechte Happen der Pizza über den Rand ziehe, um so besser abbeißen zu können.
In der Jugendherberge kommt ein Deutscher auf mich zu. Zusammen machen wir einen nächtlichen Strandspaziergang; zurück in der Herberge teilen wir uns den Rest der Pizza. Ein Bier. Gute Nacht.
Montag
Mit Roland - dem Deutschen - wandere ich los. Den ganzen Weg am Strand entlang Richtung Hafen. Der Mistral peitscht das Meer auf, bläst heftig ins Gesicht. Wunderschön liegt die Stadt zwischen Meer und Berghängen langgezogen eingebettet. Was soll da schon das bißchen Regen! Es pulsiert in den Straßen. Dichter Verkehr und ansprechendes Gewühl. Ich versuche mich im Französischen und im Gesang in der Plattenabteilung eines Kaufhauses. Die Verkäuferin meinte, ich solle ihr das Lied, das ich so dringend suche, doch vorsingen. Vielleicht käme man dann weiter. Sie ist wirklich nett. Kein Grinsen. Ehrliches Interesse. Zumindest sehr gute Selbstbeherrschung! So summte und sang ich vor mich hin die paar erinnerbaren Textteile - Brocken, die in meiner Erinnerung goldene Brücken bauen: "Je ferme les yeux... Je suis heureux comme un enfant... Le monde est toi et le monde est moi... Ist sie das wirklich? Denkst du vielleicht gerade jetzt auch ein wenig daran? Nein? Ja?
Weiter hat mich mein Singen bei der Suche nicht gebracht. Aber es war ein das Selbstgefühl stärkendes Erlebnis.
Wir ziehen im Hafen umher, erkundigen uns nach Arbeit. Nur mal so. Ausprobieren. Um zu sehen, wie es hier funktioniert. Funktioniert nicht.
Am Nachmittag fahren wir auf die Insel Frioul. Eine wohltuende Einöde, wenn man paar unbequeme, schöne Schritte geht. Aber wie lange noch? Düstere Pläne verplanen dies Stückchen Freiheit zu einem "Urlaubsparadies" mit allem Komfort. Im Modell läßt sich dieser "Fortschritt", geboren aus menschlichem Schwachsinn und der entsprechenden Geldgier, jetzt schon im Port Vieux auf dem Festland besichtigen. Diese Geistesblitze der Planer von Kunst-idyllen... Schlicht scheußlich.
Aber noch haben wir die Insel für uns. Noch ist es nicht so weit. Es macht Spaß, so ziellos umher zu strolchen. Da treffen wir einen "alten Hamburger Seemann", der uns "Jungens" um Geld anschnorrt. Sein Gepäck: ein Schlafsack. Er erzählt, daß er ausgeflippt wäre, drogenabhängig, nicht schlafen könne (außer auf der Polizeiwache). Daß er Deutschland meiden müsse, da sie (ein Doktor Schneider in München) ihn sofort entmündigen würden und in die Klapsmühle steckten. "Weißt du, ich habe Halluzinationen etc. Ich spinne ein wenig." Angeblich war er einmal Akademiker, Diplomkaufmann, und beim Kaufhof in leitender Stellung tätig. Bis er nicht mehr konnte und sie ihn untragbar fanden.
Ja, der Charly. Ja, seine Welt und seine kommende Nacht auf irgendeinem Boot im Jachthafen...
Dann gute Nacht, du alte Herrlichkeit!
Dienstag
Die Sonne scheint, färbt alles in eine Mischung von Blau und glitzerndem Weiß, taucht Gewächse in leuchtendes Grün. Aber der Mistral pfeift noch sein Lied. Wie gut doch so ein Parka ist. Mein treuer Begleiter auf meinen Reisen.
Wir wollen wieder auf die Insel. Auf unsere Insel. Zuvor aber noch auf das Arbeitsamt: Arbeitssuche. Einfach ausprobieren. Lernen. Enttäuschend. Genauso wenig zuvor-kommend wie bei uns in Deutschland! Die Frage ist noch gar nicht ganz vollständig gestellt, sagt ein - wenn auch freundliches - Lächeln: "Au revoir!" Unverschämtheit bleibt auch aus hübschem Frauenmund eine solche...Zur Ernte im Herbst könnten wir ja wieder kommen. Ämter und ihre Personen muß man einfach lieben...
Da fällt mir ein: ich muß versuchen, Magdi in der anderen Jugendherberge zu erreichen. Hatten wir in Mailand so ausgemacht. Ich telefoniere. Erfolglos, niemand nimmt den Hörer ab. Wozu Jugenherbergen überhaupt einen Telefon-apparat haben. Also dann halt später.
Das Meer ist unruhig; die Überfahrt nach Frioul wird zu einer tollen Schaukelei. Um den Wellen wenigstens für eine Zeit zu entgehen, fährt der Steuermann diesmal links am Chateau d`If vorbei. Ein Umweg, der für mich als Touristen natürlich gelegen kommt.
Die Insel selbst: aufgelassene sowie halbverfallene Anlagen und Häuser. Nicht ausschließlich. Teilweise auch relativ gut erhalten, soweit der Blick aus der Distanz dies Urteil zuläßt. Ein Paradies für Penner und Hippies. In einsamen, mühsam zugänglichen Buchten, spült das Meer sein Strandgut an. Im Freien, an einem Hang, steht ein verrostetes Bettge-stell. Was das wohl schon alles so mitgemacht haben mag...
Ein Raum hat sogar noch Tisch und Bett. Wir entdecken eine alte Bergbaumine, leider ist unserem Entdeckungsdrang bereits nach kurzer Zeit ein jähes Ende gesetzt: zugemauert.
Um die Nachbildung eines griechisch-römischen Tempels gruppieren sich, wie zum Schutze, in malerischer alter Gestaltung einige zerfallene Häuser. Ob das einmal ein Kloster war? Diese Weite, diese Ungebundenheit - und doch mahnt immer wieder vieles an die Begrenztheiten des Daseins. So wird man wenigstens nicht uferlos im Denken, bleibt der Realität erhalten. Von der Kuppe einer kleinen Erhebung blicke ich hinüber: wie ein Wächter gegen die Maßlosigkeit erhebt sich im Osten das Chateau d'If. Für eine Weile scheint man zu regieren, zu lenken, Subjekt zu sein.
Wir verlassen die Insel, die Kommandozentrale aus Natur, vorübergehend wohl auch die der Zerstörung und Gewalt, wieder. Glücksgefühl schlägt an mich wie die Gischt ans Boot. Die Insel gleißt über die Strahlen der Nachmit-tagssonne ihren letzten Gruß an mich. Scheint zu wissen, daß dies alles weichen muß. So nie wieder gesehen und erlebt werden kann. Es werden dann andere kommen. Mit Koffern und teurer Garderobe.
Zurück in Marseille möchte ich nun den Ägypter treffen. Ich beschließe, statt anzurufen gleich zur anderen Jugendherberge zu fahren. Also die Bushaltestelle suchen. Bei der angetroffenen Hilfsbereitschaft dauert es nicht lange.
Wer steht an der Haltestelle? Magdi. Die Wiedersehensfreude ist groß und bestimmt ehrlich. Macht des Zufalls! Es wird noch ein schöner Abend.
Von Magdi und Roland fällt mir der Abschied irgendwie schwer. Sie möchten, daß ich noch bleibe. Aber man kann doch ohnehin nichts festhalten. Nicht einmal für Augen-blicke. Und im Innern verspüre ich den Drang weiterzu-ziehen. Es zieht mich weiter. Morgen!
Mittwoch
Früh um acht Uhr ab Marseille. Stehplatz am Eingang des Waggons auf der Plattform. Ich will gar nicht sitzen. So kann ich meine Gedanken (auch den Abschied von den beiden lieben Menschen) besser leben, fühle mich nicht durch Blicke gestört. Auch läßt sich die Landschaft bis Nizza un-gestörter erfassen. Überall breitet sich die Symbolik des Tourismus aus. Dennoch: die Cote d'Azur heißt nicht nur so, sie ist es auch - strahlend blau!
Ich werde also Nizza sehen, zum ersten Mal in meinem Leben. Das sehen, von dem ich schon so viel gehört und gelesen habe. Und Nizza ist wunderschön. Sogleich fühle ich mich wohl - meinen Hunger nehme ich mit an den Strand, mit in die Sonne. Hier bleibe ich paar Tage! Am Abend sitze ich am Place Massena, bummele die endlos lange Strandpromenade entlang. Ein nicht schilderbares Schauspiel, unvergeßlich schön. Auch wenn man eigentlich nicht dazugehört.
Vom Mont Boron aus hat man ein Panorama der Sehnsucht vor Augen.
Langgezogen liegen unter mir Meeresküste und Stadt, rechts die alles begrenzenden Bergkämme. Ich sehne mich, ich träu-me. Wie die Wellen an Land spülen und sich wieder zurückziehen. Ins Meer hinein. Dieses Locken in die Weite, dabei doch auch Nähe spüren. Dieses Rufen nach Aufbruch...
Die Jugendherberge ist rappelvoll. Hier ist es nicht so herzlich wie in Mailand oder Marseille. Eine Atmosphäre der Vermassung. Obendrein ist sie fast so teuer wie ein billi-ges Hotel. Morgen werde ich mir ein solches suchen, nachdem ich ohnehin wegen Voranmeldungen nur eine Nacht bleiben kann.
Es ergibt sich eine anregende Unterhaltung mit einem Australier, der als Lehrer in den Iran will, und einem Schotten aus Edinburgh. Ein Pöbelhaufen aus Kanada ist anwesend; mit rücksichtsloser Lautstärke plärren sie ihre zentrale Themen in das Umfeld: a good smoke, grass etc. Einmal mehr lernt man, daß alle Phänomene, vor allem die dämlichen, international zu sein scheinen, und keine volks-spezifische Begrenzung ein Ausweichen durch Flucht möglich machen könnte. Arme Welt. Aber auch reiche Welt - wenn es gelingt, die Hohlheit zu überhören (nicht einfach bei der ihr zumeist verwandten Lautstärke!) und den tiefen Tönen zu lauschen.
Ich wache auf. Eigentlich will ich nun doch weiter. Sonst komme ich am Ende zu spät heim. Zu spät - das ist es für mich immer, wenn ich sie, die mir gegenwärtig beinahe alles ist, verpassen könnte. Wie gesagt: das Feld der Möglich-keiten, mag es auch noch so sehr begrenzt sein, besteht immer. Ich könnte ja schon mal nach Monaco fahren...
Donnerstag
Ich sitze am Mont Boron, schaue auf Nizza hinunter und denke nach. Der Himmel ist bewölkt, das Wetter scheint sich unsicher zu sein, was es tun soll. So schreibe ich. Dies da, an Tanja (Tochter oder nicht?) und an die Emanzen. Wie gerne würde ich jemandem anders schreiben... Also denke ich halt. Nur. Und träume.
Gemächlich wandere ich den Hügel hinab. Gefühl der Zeitlosigkeit. Kaufe mir etwas zu essen. Gehe an den Strand. Lege mich hin. Frühstücke. Wenn die Sonne durchbricht, wird es heiß. Selten genug. Ansonsten peitscht ein kalter Wind das Meer auf. Dennoch: das rollende und schlagende Geräusch des aufgischtenden Wassers beruhigt.
Ich entschließe mich, kurz nach Monaco zu fahren; für meinen Geschmack ist dort nichts los. Zu künstlich und irgendwie zu alltäglich. Protzbauten, Geldmonumente. Eine unwirkliche Schau. Leider real. Nicht daß dies alles unin-teressant wäre! Es liegt auch wunderschön am Meer. Aber eine Welt, die besser abgeschafft gehört. Eben unwirklich, aber leider allzu wirklich. Schlicht nicht meine Welt. Die Schloßwache scheint für die Touristen auf und ab zu stol-zieren. Das Museé Océanographique bietet längst nicht das, was es verspricht. Dafür entschieden zu teuer. Von Tou-risten wimmelt es hier nur so. Sie werden mit zahllosen Bussen angekarrt. Natürlich bin ich auch einer - aber hoffentlich ein wenig verschieden von dieser Vermassungssehnsucht. Also zurück nach Nizza. Warten auf den Nachtzug nach Rom. Bekomme einen Platz in einem Abteil zusammen mit einer Schottin und einer Amerikanerin. Letztere studiert in Gießen als Austauschstudentin Sonderpädagogik. Im Zug ergeben sich immer wieder die interessantesten Begegnungen auf Reisen! Die Fahrt verläuft sehr kurzweilig. Ich will bis Pisa Centrale. Dort dann Weiterfahrt nach Florenz. Nachts um drei Uhr komme ich in Pisa an und begebe mich in den Wartesaal zweiter Klasse.
Freitag
Da liegen sie alle da: langgestreckt und pennend, zumeist in heruntergegammelten Klamotten. Rauchen ist hier verboten: "vietato fumare" - dennoch schwängert der in der Halle hängende Zigarettendunst die Luft, macht sie richtig unangenehm, verleidet einem das Atmen. Ein alter Mann mit Lockenhaar unterhält den Saal mit lautem, widerlichem Gehuste, Gegrunze und Gerotze. Seine Holzkrücken lehnen an der schmuddeligen Wand. Am einzigen Tisch in der Halle lümmelt verschlafen ein junger Mann, seinen Koffer zwischen die Beine geklemmt. Hier kann und will ich nicht schlafen. Schließlich muß ich mich auch noch darauf konzentrieren, wegen meines Anschlußzuges die diffusen Lautsprecher-durchsagen aufzuschlüsseln, nicht so ganz einfach bei meinen spärlichen Italienischkenntnissen.
Ist es kalt oder angenehm? Ich weiß es nicht: vermag es nicht, mich zu entscheiden. Einmal friert es mich, dann ist es wieder zu warm. Wechselbad der Empfindungen. Ein Gewitter bricht los; fahl erhellen Blitze die Anlagen, zeichnen müde ruhende Waggons hell und lassen ihre grollenden Donner unter die Dächer der Bahnsteige rollen. Um vier Uhr dreißig soll der Zug kommen. Ich erwische einen früheren Zug, der wegen Gleisbeschädigungen, bedingt durch einen Flugzeugabsturz, umgeleitet worden war. Er fährt nach Reggio. Ich habe einen gesunden Stehplatz. Nach Pisa fängt es an, leicht zu schneien.
Florenz im Morgengrauen; Nieselregen, eiskalt. Mich friert innerlich und äußerlich. Im alten Bahnhofsgebäude schlafen die meisten noch. Sie liegen kreuz und quer. Ich lege mich auch lang, den Rucksack hinter mir als Kopfkissen, neben mir meine kleine Armeetasche mit Proviant. Frühstücken. Kaum habe ich ausgepackt, kommt auch schon ein Schnorrer.
Ich fühle mich elend müde. Um sieben Uhr suche ich die Jugendherberge. Ein großes Bauwerk mit einer riesengroßen Empfangshalle. Fast wie in einem Schloß. Etwas außerhalb gelegen, inmitten von einem kleineren Park, der auch Mög-lichkeiten zum Zelten - gegen Gebühr - bietet.
Die Jugendherberge ist rappelvoll, aber nach zwei Stunden Wartezeit habe ich die Gewißheit, ein Bett zu haben. Ich packe meine Sachen in den Schlafraum und ziehe anschließend los. Zurück zum Bahnhof: ich will eine Stadtkarte vom Touristikbüro; aber nur ein einziger Mann kümmert sich um Karten und Zimmervermittlung gleichzeitig, das mit einer Geschwindigkeit, daß ich resigniere und erfolglos weiter-ziehe, hinter mir gewiß mehr als vierzig Wartende zurücklassend.
Ist es das Wetter, ist es die Müdigkeit oder bin ich vorübergehend schlicht unzufrieden: Florenz erfüllt meine hochgespannten Erwartungen nicht. Ziehe durch die Straßen, besichtige Dom und Uffizien, esse in einer Selbstbe-dienungskneipe zwei Pizze und die ersten frischen Erdbeeren des Jahres mit Sahne. Gestern noch Schnee!
Irgendetwas drückt auf meine Stimmung. Ich kaufe ein Buch über Florenz. Bücherkauf ist immer gut, wenn man nicht handeln kann. Anschließend gehe ich zum Bahnhof zurück, um mir einen Zug auszusuchen. Ich will weiter. Morgen. Rastlos? Nur, die Verbindungen nach Ravenna, meinem nächsten Ziel, sind nicht so günstig, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich lese den Fahrplan immer wieder, aber die Verbindungen werden nicht besser. Ob ich meine Reisepläne gänzlich ändern sollte? Warum denn? Zuück in die Jugendherberge und erst einmal kräftig ausschlafen. Das hilft immer. Dennoch: morgen früh will ich weiter, zumindest wenn das Wetter so schlecht bleibt.
In der Jugendherberge ergeben sich, wie fast immer, nette Gespräche. So mit einem Engländer, der in Mainz studiert. Wir diskutieren über Reisen, politische Systeme und Philo-sophie. Lerne einen Tramper aus München kennen; er erzählt fesselnd von seinen zahlreichen Tramperlebnissen. Wahr oder gelogen? Ist mir irgendwie egal, weil es unterhaltsam und unverbindlich ist. Eine Medizinstudentin und ihr Freund gesellen sich dazu. Die Runde auf der Treppe wird immer amüsanter. Sehr nett finde ich eine angehende Sozial-pädagogin aus München. Wir unterhalten uns sehr lange, vor allem über die Tiefgründigkeiten und Wirrnisse der Lebens- und Beziehungsgestaltung. Ich gebe ihr Sieglindes (eine alte Bekannte mit nämlichen Interessen) Adresse; die zwei verstehen sich gewiß blendend mit ihren Emanzipationsver-renkungen...
Der Abend ist einfach schön - und lang. Ich vergesse die Müdigkeit etwas und komme später als ursprünglich gedacht ins Bett. Dennoch: ist das Wetter morgen schlecht, dann werde ich weiterziehen, ist es hingegen schön, werde ich bleiben.
Samstag
Die Sonne scheint in den Schlafraum. Aufstehen. Ein Gefühl, wie neu geboren zu sein. Sonne und ausgeschlafen! Unter die Dusche. Die Duschen sind nur kalt. Eiskalt. Egal, ich muß mich einfach frisch machen. Auch im und auf dem Körper die neue Stimmung spüren. Fühle mich nun noch besser. Ab in die Stadt! Allein, denn ich will ziellos und ungestört umher-streifen. Die Kommunikationsbedürfnisse lassen sich abends hinreichend befriedigen.
Florenz schaut heute ganz anders aus, wirkt wie verwandelt. Dennoch, nach all den aus Büchern entwickelten Vorstellungen hatte ich es mir ganz anders vorgestellt. Viel prächtiger. Oder versperrt die Nähe den Blick für die Schönheit? Plötzlich will ich hinaus. Ich will ins Grüne und von den Hügeln aus auf die Stadt blicken. Lande auf meiner ungerichteten Wanderung im Park des Palazzo Pitti, auch ein Renommierbau der Medici. Ein großer Park, ganz in dominie-rendem Grün angelegt. Ich setze mich, schaue, sauge auf. Irgendwie wäre es jetzt schön, wenn jemand meine Hand halten würde, wenn Zärtlichkeit mich begleitete. Ich verspüre eine große Sehnsucht. Denke - trotz der mich umgebenden Idylle - an die feuchtkühlen Wälder daheim, an das Rauschen des Windes in den Wipfeln, an einsame Jägerstände, an das Wiegen der Gräser und der leider nur noch spärlich vorhandenen Wiesenblumen in der Sonne. Ich ziehe wieder weiter.
Aber weitere Erleichterung kommt. Außerhalb und oberhalb von Florenz. Wer das Gefühl des Nichtkönnens kennt, wird mich hier gut verstehen: ich kann scheißen in einem lichten Wald, der eine kleine Kirche umsäumt. Also kann es mir gar nicht schlecht gehen. Keine psychische Verkrampfung!
Die Sehnsucht von vorhin ist wieder fort. Verdrängt? Überwunden? Abgelenkt? Eine andere Sehnsucht taucht plötzlich auf: Ich will nun morgen doch nach Ravenna fahren (vor kurzem wollte ich dies noch aussparen wegen der ungünstigen Zugverbindung und stattdessen direkt über Bologna nach Venedig reisen). Dann wäre Sonntag und am Montag könnte ich frühestens in Venezia sein. Ist ja auch egal, wann ich wo ankomme. Die Gegenwart gilt es zunächst festzuhalten, zu genießen.
Dennoch immer wieder der eher störende Gedanke an das, was danach wohl alles kommen wird. Dazwischen die planenden Gedanken, die einerseits Unsicherheit, andererseits aber auch das Bedürfnis nach einer gewissen Ordnung wider-spiegeln.
Hier ist es schon wieder, dieses bangende Fragen. Unruhe befällt mich immer wieder, wenn ich an die nächste Woche in Deutschland denke. Na ja. C´est la vie.
San Miniato al Monte ist wirklich schön. In rein romanischem Stil, bestechend in aufrüttelnder, monumentaler Schlicht-heit. Tief unter mir liegt Florenz, eingebettet in Hügelketten, zerschnitten vom schwerfälligen Lauf des Arno. Ich kann tief und ruhig durchatmen. Die Luft schwirrt von der Wärme, Verkehrsgeräusche klingen nur fern. Angenehm. So wandere ich, etwas zufriedener, mit einem neuen Bild der Stadt im Herzen, etwas tiefer zur Piazzale Michelangelo. Wie eine riesige Terrasse breitet sich der Platz vor mir aus. Im Zentrum reckt sich das Denkmal Michelangelo Buonarottis erhaben in die Ewigkeit und wacht stolz über vergangenen Schaffenshorizont. Unten sein einstiges Zentrum. Inmitten der altehrwürdige Palazzo Vecchio. Ich stehe direkt unter diesem Koloß. Dieses Antlitz! Was mag es wohl ausdrücken? Spiegel meiner momentanen Ruhe und Zufriedenheit? Schlichter Blick geworfen in die Sphären der Vergänglichkeit? Oder Bewertung seiner gewiß nicht selbstlosen Mäzenen, der Medici: Dank? Ehrfurcht? Ekel? Überlegenheit?
Ich genieße den Rundblick. Östlich vor mir die reizvolle Hügellandschaft der Toskana. Vereinzelt streuen sich alte, wohl zumeist verlassene Häuser zwischen die bewaldeten Berghänge. Alles ist so friedlich. Die Sonne scheint als wie zum Danke.
Mit dem Gefühl von Geborgenheit in der Ferne gehe ich wieder in die Stadt hinunter, wandere entlang der alten Wehrmauer, rechts der Arno mit ein paar stoisch verharrenden Anglern, am anderen Ufer die pulsierende Stadt, laut, malerisch und herrlich ungeordnet. Durch enge Gassen, teils wie ausgestorben, teils übervoll, ziehe ich ziellose Kreise. Lege mich dann auf einen Steinsims neben der Bibliothek schlafen, Sonne strahlt auf mein Gesicht, strahlt in mein Herz. Stimmengewirr wie von fern. Auf dem schmalen Sonnenbett scheint die Welt nun wirklich nicht zu klein - groß genug, um tief atmen zu können.
Dann Santa Croce. Michelangelos Grabmal von einem seiner Schüler geschaffen. All die großen Menschen, die hier begraben sind, hier, in dieser in die Unendlichkeit gerichteten Kirche.
Wieder draußen, vor der Kirche: der Marktplatz, der "Spielplatz" der Medici. Inneres Staunen, tiefes Fragen bohrt in mir. Immer diese unüberbrückbare Spannung zwischen bewundernswerter Kunst und hemmungsloser Ausbeutung anderer Menschen! Und dann: wie verhält es sich wirklich mit dem Absoluten, dem Unbeweisbaren? Mythos und Wissenschaft führen wieder einmal ihren gnadenlosen Kampf. Kein neues Erleben!
Weiter ziehe ich dahin. In einem alten Kloster, in einem Rückgebäude, entdecke ich zufällig Ghirlandajos Abendmahl. Lange kann ich davor wie gebannt sitzen bleiben. Diese sprechenden Gesichter, das faltige Tischtuch mit Leinen-struktur, der nur leicht überhöht sitzende Jesus in der Mitte der Schar seiner Jünger. Eine Fröhlichkeit in den Gesichtern. Abbild von Leichtigkeit des Seins. Nicht diese Düsterkeit wie in Leonardos Abendmahl. Keine Vorahnung von drohender Zukunft. Stattdessen Lockerheit und Gelassenheit. Dahinter, durch zwei Bogenfenster sichtbar, die friedliche Iylle eines fruchtbaren Gartens einer lebendigen Natur. Leben! Das Bild lebt, stellt Fragen, scheint auch antworten zu wollen. Man könnte ewig hier sitzen...
Weiter durch die engen Gassen. Wieder auf die andere, nicht so vom Tourismus befallene Seite des Arnos. Kaufe in einem kleinen Laden frisches Brot, Käse, Milch und Kirschen. Setze mich in eine ruhige Ecke, beobachte einfach gekleidete Einheimische in ihren gemächlichen Schritten auf den Wegen des Hin und Her. Esse dabei gemütlich. Entspanne mich erneut.
Anschließend wieder zurück über den Arno, durch das Getümmel, das mich aber hier - im Gegensatz zu deutschem Stadtgewühl - nicht stört, zur Jugendherberge.
Lerne abends eine Psychologiestudentin aus Wien kennen. Sie redet viel, weiß viel und ist sehr nett. Sie erzählt auch von den neuen Wiener Studentenkneipen: dort sei alles har-monisch, eine tolle Clique, in der Offenheit und Abge-schlossenheit eine - so meint sie jedenfalls - menschliche Synthese bilden. Ein Hort der Toleranz. Hoffentlich stimmt das so. Jedenfalls hört es sich schön an und kommt ureige-nen Wünschen und Sehnsüchten entgegen.
Dann Uschi aus Schwäbisch-Gmünd. Lehrerin nach zwölfsemestrigem Studium. Mit Teilzeitbeschäftigung. Dafür arbeitet sie in den dortigen Galleriestuben samstags und sonntags als Bardame. Für sie, als Ex-Hausfrau, scheint alles so einfach: alle Studenten sind Pack, alle Italiener bescheißen einen. Sie lädt mich ein, ich bekäme ein Frei-bier. Sechsundzwanzig Jahre Leben prägen sie.
Gute Nacht. Morgen geht´s wieder weiter. In der Jugendher-berge ist jedoch an Schlaf noch nicht zu denken. Musik hallt durch die Räume. Italiener singen kommunistische Lieder; die Musik ist sehr rhythmisch und die Melodien sind wunderschön.
Sonntag
Ich stehe auf, packe meine Sachen, zahle und ziehe los. Wieder ein anonymer Abschied. Paßt das irgendwie zu mir? Ich weiß es nicht so genau. Aber mich treibt´s einfach vorwärts. Die Zeit, von der ich seit Reisebeginn nur ihr Dahinrinnen, nicht jedoch auch ihre statische Komponente, verspüre, zwingt mir ihre dynamische Stetigkeit auf.
Mit dem Zug nach Pontassiève. Der Zug fährt wieder mal mit Verspätung ab - fünfzehn Minuten. Doch niemand scheint hier daran Anstoß zu nehmen. Ich verpasse jedenfalls den Anschlußzug nach Borgo S. Lorenzo. Als ich mich im Zug mit meinen kargen Italienischkenntnissen über mein Umsteige-vorhaben nochmals vergewissern möchte, entstehen hellste Aufregung und Unverständnis. Wie kann auch nur ein normaler Mensch diese Strecke von Florenz nach Ravenna wählen! So käme man nie dorthin. Nur der Weg über Bologna wäre der sinnvolle. Daß die Leute recht haben könnten, wird mir jedoch später noch klar werden. Nur aus geographischer Distanz, aus Unkenntnis, aus unverrückbarem Glauben an Gedrucktes, sei es in Kartenform, sei es in der Gestalt von Fahrplänen und Kursbüchern, kann man so entscheiden. Daß die Leute aber im Ergebnis nicht recht behalten werden, liegt jedoch nicht nur am Zufall, sondern auch am Willen und Mut zum kleinen Risiko, an der Lust auf Überraschungen.
Pontassiève: allen grinsen mich an, wie ich so mit meinem Rucksack daherkomme. Ich frage den Fahrdienstleiter. Der nächste treno erst um mezzogiorno. Fare autostop! rät der Herr der Eisenbahn. Ob ich so überhaupt heute mein Ziel erreichen werde, scheint mir immer zweifelhafter zu sein. Also Abschied von den Geleisen, hinaus zur Ausfallstraße nach Forli.
Ich stehe und stehe, warte und warte. Der Himmel ist düster bewölkt, behält aber zu meiner großen Erleichterung den Regen für sich. Es kommen wenige Fahrzeuge. Wenn, dann sind sie vollgepackt und halten nicht an. Soll ich reumütig zum Bahnhof, zur Sicherheit zurückkehren? Junge, halte aus! Übe dich in Geduld...
Es hält doch noch jemand an - eine Fügung des Schicksals, oder, realistischer: steter Tropfen höhlt den Stein. Das italienische Pärchen will auch nach Ravenna. Ich hab´s ge-schafft. Moral: gib nie auf, verfolge dein Ziel beharrlich!
Sie laden mich irgendwo zu einem Frühstück ein. Ich will bezahlen, möchte mich wenigstens auch ein klein wenig dankbar zeigen. Wird vehement abgelehnt. Mein Italienbild wird, besonders wegen der Menschen, die ich auf meinen Wegen treffe, immer positiver. Arme Uschi aus Schwäbisch-Gmünd. Da könnnen wir Deutsche in unserer Verkrustetheit noch viel lernen.
Es geht über die herrlichen Berge der Toskana über enge Straßen in die Romana hinein. Wie die Straßen sich auf und ab winden. Die schöne Landschaft, die vielen einzelnen, leer stehenden Häuser - aus dem fahrenden Auto wirken manche noch sehr gut erhalten -, lassen kurzfristig illusorische Gedanken an Emigration und Kulturwechsel aufkommen.
Fürs Autofahren ist das Wetter geradezu ideal. Wie winzig die kleinen Dörfchen unter uns erscheinen...
Es ist eine malerische Natur, die den Kampf mit dem ausklingenden Winter aufgenommen hat. Die Obstbäume strecken vorsichtig ihre Knospen hervor, vereinzelt stehen schon Bäume in roter Blütenpracht. Der Wind läßt etwas nach und wird wärmer. Welch ein Wandel, wenn ich an die Fahrt im Nachtzug von Frankreich nach Italien denke, and den Schnee-fall und an die begleitende Kälte.
Ravenna ist in Sicht. Die Konversation, auf Englisch und Italienisch, war warmherzig, wohltuend und aufschlußreich. Habe viel über Ausbildung, Studium, Arbeit und Leben in Italien erfahren. Der Abschied von diesen beiden jungen Menschen fällt mir nicht ganz leicht. Aber in der Wieder-holung stellt sich Übung ein. Ich habe viel dazugelernt. Dankbar blicke ich nochmals zurück, den beiden nach. Da fällt mir plötzlich eine früherere Freundin ein, die sich immer aufregte, wenn ich keine Anhalter mitnahm. Na ja, durch eigene Erfahrungen lernt es sich wohl am besten.
Die Stadt der Mosaiken. Durchwandern, einen ersten Überblick erhalten, sich akklimatisieren, langsam heimisch werden. Ein Wagen, vollbesetzt mit jungen Leuten, fährt vorbei. Verlangsamt seine Fahrt. Sie rufen etwas. Ich verstehe es nicht. Einer steigt aus, fragt mich, ob ich etwas zu essen habe wolle und ob ich etwas zu rauchen möchte. Sofort stellt sich wieder mein bekanntes deutsches Mißtrauen ein. Verdammt, hört das denn in dieser Intensität nie auf. Mein Nein fällt mir vielleicht auch deshalb leicht, weil ich einen vollen Magen habe (mittlerweile hatte ich ausgiebig vor San Francesco gepicknickt). Die Leute fahren weiter, winken nochmals freundlich zurück. Ich winke auch. Bestimmt war ich wieder einmal ein Arsch gewesen...
Vor dem Grabmal des Theoderichs sitze ich, schreibe und ruhe ein wenig.
Abends fahre ich weiter nach Ferrara; dort möchte ich in der Jugendherberge übernachten. Als ich aus dem Zug aussteige, regnet es heftig. Für Minuten stehe ich wie verloren im alten, düsteren und unfreundlichen Bahnhofsge-bäude herum. Endlich finde ich doch einen Stadtplan. Groß genug wäre er ja gewesen, um ihn sofort sehen zu können.
Eine ältere Frau hilft mir auf dem Weg zur Jugendherberge und gibt obendrein etwas Italienischunterricht. Danke. Eine schöne, kleine Herberge, ein gutes Bett, warme Duschen. Das nütze ich reichlich aus.
Montag
Christian ist Kochlehrling, kommt aus Wien, reist für fünf Tage mit einer kleinen Tasche umher. Seine Eltern sind geschieden. Der Vater war Artist und trinkt jetzt zu viel. Christian strahlt einen grenzenlosen Optimismus, gepaart mit bodenständiger Lebenszielsetzung, aus: man muß arbeiten, um leben zu können; Einschränkungen alleine ermöglichen tiefes Erleben. Religion habe nur dann ihren Sinn, wenn sie dem Menschen konkret dient. Er freut sich riesig und echt über jede Kleinigkeit, vor allem wenn sie mit Reisen zusammenhängt. Keine Spur von Mißgunst. Er kann sich besonders auch mit einem und für einen freuen.
Wir beschließen, zusammen nach Venedig zu fahren. Eine wohltuende Abwechslung ist seine Begleitung, besonders dann, wenn der Vergleich mit dem sexuell anders gepolten Opa, der mich gestern auf der Zugfahrt angemacht und in sein "casa mia" eingeladen hatte, angestellt wird. Na ja, suum cuique...
Venedig im Sonnenschein! Aber diese Menschenmassen. Noch viel mehr als bei meinem ersten Besuch hier vor einigen Jahren. Also Flucht nach Murano; aber wie Ameisen wimmeln sie auch dort. Nichts wie wieder weg. Fahre nun erstmal mit dem Boot einmal um die ganze Stadt. Nun kehrt langsam wieder Ruhe ein. Am Markusplatz steige ich dann aus. Der Hunger meldet sich immer heftiger. Finde nicht weit weg vom Touristenpfuhl Markusplatz in den dahinterliegenden Gassen Ruhe. Wie leergefegt, wie ausgestorben. Fast unvorstellbar, wenn man den Trubel in der unmittelbaren Nähe denkt. Hoch über den Gassen sind zwischen den Häusern Schnüre gespannt. Wäsche hängt dort zum Trocknen.
In einer Taverne (nach einem Blick in die Kochtöpfe) esse ich viel, billig und gut. Langsam gelingt mir die innere Anpassung an mein neues Reiseziel, immunisiere ich mich gegen den Tourismus. Natürlich bin ich selbst auch Tourist. Wahrscheinlich halt ein egoistischer, weil er die Plätze gerne für sich alleine hätte. Ein Tourist, der keine aufwendige touristische Infrastruktur wünscht. Kein lauter, kein auffälliger, sondern schlicht Gast, der sich den Gepflogenheiten des Gastlandes anzupassen bemüht, ohne dabei seine eigene Identität aufzugeben. Ich trinke noch ein Glas Wein und tausche mit anwesenden Arbeitern Freund-lichkeiten aus. Jetzt können mir die Massen nichts mehr anhaben.
Stoisch warte ich inmitten der Menge, bis auch ich auf das Boot zum Lido darf. Viel Trubel ist dort. Lege mich in die Sonne. Eine nicht unangenehme kühle Brise hält mich wach. Denke nach und weiß, daß es hier schön ist, schön sein kann.
Trotzdem fahre ich heute nacht heim. Es treibt im Innern wieder. Der Sonntag ist nun vorbei (irgendwie schon lange). Sie wird warten - so wie auch mein Herz wartet, wartet, sich sehnt, mich treibt, antreibt. Ich nehme mein Gepäck auf und fahre zurück zum Markusplatz. In der Nähe eines Schiffes Rast an einer Mauer. In einer Mischung aus Ruhe und Unruhe schreibe und beobachte ich. All das fremde Treiben. Es dünkt mir nur mehr fernes Schwellen von Tönen zu sein, durchbrochen vom Brummen der Schiffsmotoren an- und ablegender Boote. Vereinzelt das Rufen der Gondoliere. Plätschernd schlägt das Wasser gegen die Kaimauer und zieht sich dann wieder gurgelnd zurück. Die Sonne bestreicht die Zinnen des Dogenpalastes. Bald wird sie untergehen. Und sie wird wiederkommen. So wie ich nach Venedig. So wie meine Erinnerungen an Venedig.
Ich schreibe eine Ansichtskarte an Christine. Eine Anwandlung von Sentimentalität und der Gedanke an Venedig mit ihr? Gründe hierfür gibt es wahrlich keine. Wenn ich an die damaligen Umständlichkeiten denke, vor allem auch an Georg und Carola, das andere Pärchen. Der Stress bei der Zimmersuche, dieses ewige Schielen nach Restaurationen, eine unaufhörliche Eitelkeit in der Selbstdarstellung. All die spießigen Touristereien, all die Belastungen durch gesteuerte Langeweile. Nein, da merke ich erst, was für ein Genuß es ist, allein zu reisen. Was nicht heißen soll: daß es nicht andere und bessere Möglichkeiten gäbe...
Wärme auf dem Gesicht läßt Wünsche nach Endlosigkeit aufkommen. Dadurch meldet sich gleichzeitig das Ende an: Ferien dauern nun mal nicht ewig. Auch wenn sie den meisten - neidischen - Zeitgeistern zu lange sind. Die Gedanken streifen nolens volens in Richtung Arbeit. Schreibe auch an meinen Schulleiter, etwas ironisch, was er aber, wie sich später herausstellt, nicht verstanden hat. Vielmehr nahm er die Karte zum Anlaß, sein Bedürfnis nach billiger Sympathie zu befriedigen. Zumindest im nächsten Schuljahr werde ich noch an seiner Schule bleiben. Was danach noch alles kommen mag? Was überhaupt noch alles kommen mag?
Ach, ich werde den Tag ruhig und langsam ausklingen lassen und dann heimfahren - alleine - und ich werde, trotz aller Widersprüchlichkeiten, gestärkt sein. Die Ferne, den Abstand erleben zu können, gibt einfach auch Rückhalt. Die Distanz zum Alltag schafft neues Aufspüren von Kräften, an die zu glauben daheim meist unmöglich fällt.
Auch freue ich mich schon auf Harry Chapin´s Dance Band on the Titanic. Und, und, und...
Der Schatten
Es ist immer wieder die gleiche Mühseligkeit. Dafür aber mit ebensolcher Gewißheit die Aussicht auf den Lohn der gleichen Freude. Immer wieder. Das Glücksgefühl, dem Leben näher gewesen zu sein. Wenn auch nur für Stunden.
Zurückerinnern: Weckerläuten zu nächtlicher Stunde. Die in solchen Situationen immerwährende Frage nach dem Sinn des frühen Aufstehens. Kampf gegen die Verlockungen, sich den vormittäglichen Annehmlichkeiten eines Wochenendtages hinzugeben: genüßliches Ausschlafen, gemütlich spätes Frühstück, um dann ziellos dem Rhythmus alltäglicher Wochenendverrichtungen zu verfallen.
Jedoch die Lust zum Nachgeben - eigentlich: aufzugeben - schwindet immer mehr. Zunehmend wirkungsloser verpuffen die Lockgedanken. Der Ruf "Morgenstund hat Gold im Mund" gewinnt Oberhand.
Zugegeben, die Anstrengungen mögen einem die Aktivität verleiden. Noch nicht richtig wach, mehr oder weniger mühselige Fahrt mit dem Auto zum Ausgangspunkt, stehe ich vor der Frage, ob das schnelle und karge Frühstück zu nächtlicher Morgenzeit einer Aufbesserung bedarf, damit genügend Kraftreserven für die kommenden Wanderwegstrecken vorhanden sind, oder ob sofort losgegangen werden soll, nicht zuletzt um der hechelnden Meute späteren Aufbruchs zuvorzukommen.
Jedenfalls ob mit oder ohne zweitem Frühstück: hinein in die festen Bergschuhe, die mittlerweile meinen Füßen eine zweite Haut geworden zu sein scheinen und den wohlgepackten Rucksack auf den Rücken geschnallt. Ich gehe immer gut gerüstet. Für alle Fälle. So können wetterbedingte und andere Überraschungen allenfalls lästig aber nie gefährlich werden.
Ich schwitze schnell. Schon nach den ersten Metern ein Gefühl, als hätte ich einen Großteil eines Riesenackers umgegraben. Der Schweiß rinnt in Bächen, tränkt die Kleidung. Anfangs aus bösem Inneren wiederholt die lästige Frage nach dem: Wozu das alles? Weitergehen und überhören! Schritt für Schritt. Atemzug für Atemzug. Stetiger Gleichklang. Dann nach Höhengewinnen Pausen. Teils Zwangspausen, weil die Lungen es verlangen. Oft aber auch nur, um zu sehen. Unerklärlichkeiten zu schauen. Sicherlich, wie oft habe ich es in der Schule gelernt, richtiger: lernen müssen, wie unsere Alpen entstanden sind. Doch das ist gar nichts, dieses Wissen im Kopf. Es hilft dir nicht, zu begreifen. Es gibt auch nichts zu begreifen. Sehen und staunen, das genügt. Schlicht genießen. Ich erinnere mich an Kindheitstage und Jugendempfindungen: täglich nach dem Aufstehen im Internat die Füssener Berge vor Augen. Den Säuling. Den Tegelberg - damals noch ohne Bergbahn. Der Weg über Schloß Neuschwanstein zur Bleckenau: damals noch ohne Busverkehr. Immer wieder der sehnsuchtsvolle Blick zum Säuling: einmal dort hinauf. Kindheitswünsche. Mittlerweile längst mehrfach erfüllt...
Auch heute schleppe ich mich vorerst voran. Körper und Geist haben noch nicht ihre Harmonie gefunden. Macht aber nichts, da ich weiß, diese Einheit wird sich bald einstellen. Ich setze bedächtig Schritt vor Schritt. Eine angenehme, kühle Morgenbrise sorgt für leichten Ausgleich, denn natürlich schwitze ich wie immer. Ab und zu Vogelgezwitscher. Plätschern eines fernen Bergbaches. Ansonsten Stille. Wo findest du derartige Annehmlichkeiten noch? Natürlich hänge ich auch meinen Gedanken nach. Die schwache Morgensonne wärmt noch nicht, wirft jedoch ihre verheißungsvollen, fahlen Strahlen durch den lichten Bergwald. Eine kleine Pause. Blick zurück hinunter, sofern der Baumbestand Sicht zuläßt. Schon jetzt wirkt alles klein und so fern, so unbedeutend. Ich weiß, diese Unbedeutsamkeit wird mit zunehmender Höhe wachsen. Ich stelle den Rucksack auf den noch feuchten Bergwaldboden und packe Proviant aus. Ein Wurstbrot, einen Apfel und frisches, klares Wasser. Hier, auf diesen Ausflügen, wird alles zum Festtagsmahl. Pausen sind Auffrischungen, Ruheplateaus als Ausgangspunkt für Höheres. Die Gedanken schweifen dennoch wieder zurück in die Niederungen der Alltäglichkeit. Zu den ewigen Kämpfen, die das Dasein belasten. Zu den Zwängen, die Menschsein verhindern und dabei subtil und dreist vorgeben, Lebensqualität zu schaffen. Wie schön es ist, hier sein zu können, wahre Lebensfreude zu spüren.
Ich steige weiter bergauf. Schön bedächtig. Wie sinnvoll hier die verrinnenden Sekunden zu spüren sind. Wie angenehm das Gefühl, daß der eigene Körper noch richtig lebendig zu sein scheint. Wie belastbar man noch ist. Nicht zu vergleichen mit der Apathie, die sich im Alltag häufig breitmacht und einem das Gefühl vermittelt, bereits ein wandelnder Leichnam zu sein - dies unabhängig von der Anzahl der Lebensjahre. Wie unterschiedlich Zeit empfinden läßt: in den Bergen als tatsächlich gelebtes Leben, im Arbeitsalltag als Ausdruck dahinwelkender und langsam sterbender Stumpfheit, bar jeglichen Sinnes.
Immer wieder erstaunlich, wie schnell man an Höhe gewinnt. Was von unten sehr oft als beinahe die Kräfte überfordernde Herausforderung wirkt, erweist sich im Nachhinein als sinnvoll zu bewältigende Aufgabe.
Die Sonne wirkt nun stärker. Auch fehlt der Schutz der Waldzone mittlerweile. Die Gedanken haben sich längst geändert. Keine Frage mehr nach dem Sinn des Wanderns. Kein Zweifel mehr an der Richtigkeit des Handelns. Stattdessen: sicheres Gefühl, das Richtige zu tun. Einheit von Verstand und Gefühl ist längst Begleiterin des schönen, wenngleich anstrengenden Weges nach oben.
Ich werde angesprochen. Sehe aber niemanden. "Du müßtest das viel öfters machen. Nicht nur zu Stunden, die man dir in einem Anflug von Großzügigkeit zu überlassen scheint. Ausbrechen. Nicht nur im Takt von Wochenenden. Du magst doch ohnehin nicht die Massenansammlungen. Also: Wochenende meiden. Nicht sich unterkriegen lassen." Ich will mich umblicken, Ausschau nach dem Sprecher halten. "Schaue nicht zurück, immer nach vorne blicken, vor allem aber auf den richtigen Weg achten. Du kennst mich, kennst meine Gedanken, kennst meine Worte. Was fremd dir scheinen mag: es möge dir nahe sein." Ich erinnere mich an Zwiegespräche, die mangels Spielkameraden ich als Kind mit einer fiktiven Person geführt hatte. Lange, lange ist dies her. Doch irgendwie drängt der Impuls nach Vergleichbarkeit. Wird nicht fündig. Nichts scheint - entgegen früher - benennbar. Der Sprecher bleibt verborgen, im Unsichtbaren.
Er erzählt mir, wie auch er es haßt, sich den Alltäglichkeiten unterzuordnen. Wie ihn die stete Wiederholung der Wiederholbarkeiten anödet. Wie ihm die Arbeit auf die Nerven gehe. Daß er am liebsten fliegen können möchte, um über all den Anfeindungen hoch oben zu kreisen, und sie aus dieser Distanz in ihrer fernen Lächerlichkeit als fremd und unbedrohlich erleben zu können.
Er stört mich in meiner momentanen Stetigkeit. Es fehlt mir augenblicklich nichts, als daß ich Lust hätte, mich auf derart in dieser natürlichen Stille und Entrücktheit wirklich Unpassendes einzulassen. Themen für unten, meine ich, nicht für Höhenzüge.
Er läßt mich nicht aus. Erzählt aus seinem Leben, privat wie beruflich. Ich spreche laut vor mich hin. Kein Problem für mich: das mache ich manchmal, wenn ich mich allein glaube. Er solle diese Landschaft genießen, solle sich dem Augenblicke verschreiben; zum Lamentieren bliebe später ohnehin wieder mehr als genug Gelegenheit. Und Notwendigkeit, füge ich hinzu, schon allein, um nicht den Eindruck zu erwecken, seine Einwendungen wären mir nicht geläufig.
Weiter könnte ich auch nicht reden, selbst wenn ich wollte. Ich brauche meine Luft zum Vorwärtsgehen, benötige meine Sinne zum Einsaugen der unerklärlichen Schönheit der Umgebung. Keine Verschwendung an Dinge, die ohnehin nicht davonlaufen.
Er erzählt ohne Rücksichtnahme: wie er immer ausgelaugter vom täglichen Arbeitstrott sich ausgepowered (er benützte tatsächlich dieses Wort) fühlte, wie sein Gemüt zu leiden begann und als es nicht besser wurde, er den Vorsatz faßte, zum Telefonhörer zu greifen, um sich für drei Tage krank abzumelden. Wie er danach eine derartige Befriedigung verspürte, daß er - was er sonst nie zu tun pflegte, weil er nicht gerne dieses Gefühl aufgeweichter Haut ertrage - ein Wannenbad nahm und sich beinahe dreißig Minuten in der Wanne aalte und räkelte, daß es eine Wonne war. Daß er anschließend gemütlich frühstückte, dabei das vormittägliche Programm des Radiosenders genoß. Daß er ein Gefühl von selten gespürter Unabhängigkeit erlebte. Daß er glaube, dies könnte eine Antwort auf Drangsal und Langeweile sein. Wie er in den drei Tagen endlich in Ruhe all die liegengebliebene Literatur aufarbeiten konnte - dies bei steigendem Genuß. Daß er eine Erholung tief innen spürte, wie sie auch Urlaube selten zu vermitteln in der Lage sind. Daß er ein Gefühl gehabt hätte, der Welt und ihren Impertinenzen ein Schnippchen geschlagen zu haben. Daß allein dieses Erleben Wiederholungen rechtfertige.
Ich höre und kämpfe mich schrittweise weiter nach oben. Ich will umschauen, sehen, ob die rätselhafte Erscheinung Wirklichkeit oder Einbildung ist. Er heißt mich, weiter-zugehen, den Weg zu beachten. Er meint, daß nicht nur hier Vorsichtigkeit eine wesentliche Grundlage für sicheres Umschiffen der Lebensklippen sei. Also gehe ich eben - folgsam - weiter. Streife mit offenem Blick über die Weite der vor mir liegenden Landschaft. Kein Berg gleicht dem anderen. Wirkliche Individualität. Nicht so wie bei den Menschen: immer meinst du, diesen oder jenen Typ schon woanders gesehen zu haben, dutzendmale. Austauschbarkeiten. Nicht so die Berge. Lauter Individuen. Und echt! Keine Abziehbilder.
Ich denke zurück, an unten, an das übliche Leben. Die Berge ziehen mich wieder nach oben. Immer seltener brechen die Gedanken in die andere Welt nun. Schwitzen, sehen, genießen, sich spüren. Ein Gefühl des wieder Auftauchens. Wieder alleine. Ohne lästige Unterhaltung und Belehrungen. Lange währt diese Freude jedoch nicht. Die altbekannte Stimme von vorhin ist doch noch - oder schon wieder - anwesend. Erzählt von früheren Reisen (angeblich wäre er während Krankenständen mehrfach im Ausland gewesen, sogar beim Skifahren in einer schweizerischen Nobelgegend), wie das Leben bei Geselligkeiten gepulst hätte, wie schön und erbaulich auch Müßiggang sein könnte (sofern die richtigen Leute mitspielten) und wie wichtig es sei, nicht dem Taktschlag bürgerlicher Lebensabschnittsanforderungen zu folgen. Ich sollte mehr auf ihn hören, das wäre für mein Wohlergehen eine gute Medizin, meinte er mit höhnischem Gelächter.
Es fällt mir immer schwerer, meine Neugierde zu zügeln. Wie es überhaupt merkwürdig ist, daß der Mensch sich neugierig zeigt in Angelegenheiten, bei denen er vorgibt, gleichgültig zu sein. Und ich verweise auf diesen Umstand mit gutem Grund: ich wähnte ihn, mir mehr als überflüssig zu sein. Trotzdem: ich frage erneut nach seinem Namen. Schweigen. Keinerlei Reaktion. So als wäre er niemals dagewesen. Zufrieden und beruhigt gehe ich ungestört weiter. Dem bereits nahen Gipfel entgegen.
Daß er jetzt ginge, flüsterte er mir nun ins Ohr. Daß er die ganze Zeit mich begleitet hätte. Daß er Unsichtbarkeit liebe. Daß all das, was er mir erzählt hätte, nach Wiederholung dränge. Daß aussteigen allemal besser als einsteigen und mitfahren wäre. Daß er keine Gipfel ertragen könne und es ihm deshalb leicht fiele, mich zu verlassen. Daß er wiederkommen würde, ob es mir gefiele oder nicht.
Ein letzter Versuch: ich frage nach seinem Namen. Er wolle ihn mir nicht mitteilen, der Name wäre unbedeutend, nicht zuletzt, weil austauschbar. Er nannte sich meinen Schatten - Begleitung zu manch guter und unguter Stunde. Ein Rätsel, das der Lösung harre. Er habe endlose Geduld, sagte er fröhlich und gedehnt, ehe er ganz verstummte.
Ich sitze auf dem Gipfel; es gibt so viel zu tun: schauen, essen, dabei die Bergdohlen mit Käse und Wurst füttern (ganz mutige fressen aus der Hand!), sich entspannen und den bei derart schönem Wetter obligatorischen Gipfelschlaf halten. Jetzt keine Gedanken mehr an den Schatten von einigen Metern weiter unten...
Schwein bleibt Schwein
Richtig, geneigter Leser. Wir wollen aus vollem Herzen vom Leder ziehen. Dem Drang geistigen und seelischen Stuhlgangs hemmungslos freien Lauf lassen.
Und weil Sie - oder sollten wir bei derart delikatem und intimem Betrachtungsgegenstand das verbindendere, vertraute Du wählen? - uns sofort in dieser Absicht enttarnt haben, wird es zur genußvollen Gewißheit: die Überschrift war gekonnt und zielgerichtet gewählt.
Doch, wie so oft in derartigen Glücksmomenten des Erfolgsgefühls, rühren sich innere Stimmen, die wieder alles mies machen möchten. Das Zurücklehnen in zufriedener Entspannung wird einem gründlich versaut. Wir sehen uns einem jäh aufkommenden Unbehagen ausgesetzt. Wenn man sich schon einmal erfolgreich wähnt...
Wenn schon nicht zurücklehnen, wollen wir uns dann wenigstens auflehnen. Wir kämpfen an gegen das Aufbäumen der Argumente der inneren Gegenseite. Wir geben so schnell nicht auf.
Für Hinterhältigkeit und Dummheit der Schweine fehlt eigentlich jeglicher Beweis. Stimmt! Dementsprechend ließe sich die oben getroffene Aussage auch als Kompliment lesen. Ich weiß, es ist nicht geschehen. Wäre von mir auch nicht beabsichtigt gewesen. Aber immerhin: auszuschließen ist es nicht.
Auch sei der Hinweis auf gelebte Schmuddeligkeit zu vordergründig; jeder, der einmal Schweine gesehen habe, denen es erspart geblieben sei, von Menschenhand im Bewegungsdrang gelenkt, also eingepfercht, worden zu sein, werde dies bezeugen können: Ein Schwein kann sehr sauber sein, manchem Menschen durchaus überlegen...
Dieses hartnäckige innere Gebrodel nervender Innerlichkeit! Warum kann ein Körper nicht nur mit einer Stimme sprechen? Diese Ruhestörungen. Fraktionszwang im Körperparlament!
Bliebe eben die Tatsache, daß unsere ausgewählten Schweine sogenannte Allesfresser seien. Jetzt erschrecken wir: denn das sind wir auch. Vielleicht nur noch viel hemmungsloser.
Man stellt sich vor: Zweibeiner am kalten Büffet im vermeintlichen Überlebenskampf, schiebend, ächzend, keuchend. Überladene Teller und Geifer in den Mundwinkeln.
Man erinnert: Freudenschreie und orgastisches Geschmatze, wenn die Platten für Personenanhäufungen auf die sorgsam vorreservierten Tische gehoben werden. Friedliche Solidarität im Mampfen und Schlürfen, sofern erst einmal der eigene, ausreichende Anteil am Gelage gesichert ist. Speichel gewordene Inhaltlichkeit.
Auch im Grunzen vermögen wir durchaus mitzuhalten. Keine falsche Bescheidenheiten! Die uns vermeintlich gegebene Vielfalt im Ausdruck läßt noch lange nicht Rückschlüsse auf Qualität zu. Denke man nur an die Sprachöde der politischen Quacksalber und an endlose Wiederholungen seichter, gehässiger, Zeit totschlagender, wichtigtuerischer sprachlicher Alltagsrituale! Wieviel angenehmer - und aussagekräftiger! - erscheint uns da ein Aufenthalt am Schweinekobel, wenigstens eine Oase an Authentizität.
Wir lassen uns innerlich bekehren, denn wir wollen nicht als völlig verbockt und uneinsichtig aus dem Spiegel blicken. Doch äußerlich müssen wir hart bleiben. Wir können und dürfen keine Eigenwilligkeit gegen Konventionen entfalten. Vermuten wir doch alle Schlimmstes, ballert uns die Sprachsalve "Du Schwein!" entgegen, bemühen in der Folge Boshaftigkeit, Fäuste und Gerichte, also die ganze Bandbreite menschlichen Einfallsreichtums, um die Abgrenzung von empfundenem tiefstem Übel zumindest äußerlich und öffentlich sichtbar zu machen.
Wir wollen zumindest für uns selbst die Zweifel nicht länger bestreiten, weil als allzu widersprüchlich empfunden: Wie unerträglich sind eigentlich dieser "dumme Hund", die sattsam bekannte "blöde Kuh", wie einfältig jener "doofe Esel", begegnen wir ihnen außerhalb der Sphären menschlicher Arroganz?
Wird im letzteren Fall dessen vorgebliche Störrigkeit nur deshalb angeprangert, weil unser doofer Esel häufig nicht dumm genug ist, sich den impertinenten Aufforderungen seines selbsternannten Herren zu widersetzen und stattdessen bei größter Hitze lieber im Schatten lebensspendender Bäume verweilt?
Ist eine "falsche Schlange" vielleicht nur deshalb so "falsch", weil sie ihren Zielen folgend, dem Menschen so manches unangenehme, zuweilen auch tödliche, Schnippchen zu schlagen vermag? Weil ihre natürliche Geschmeidigkeit, ihre lautlose Eleganz sich unserer Tollpatschigkeit nicht unterordnet?
Diese Tiervergleiche sollten nachdenklich stimmen, schaffen es auch. Wir wissen uns mit der Mehrheit in der Frag-würdigkeit solcher Diskriminierung einig: warum, geneigter Leser haben wir uns dennoch - entgegen vielfältiger Beobachtung und Erfahrung - so schnell gefunden und verstanden, sozusagen von Anfang an?
Es gäbe auch die entgegengerichtete Sichtweise? Diejenige, die Schönes und Gutes empfiehlt? Wer kann und will da schon widersprechen. Wir formulieren: das sanfte Lamm, der stolze Adler, der schlaue Fuchs, der treue Hund (Individualisten fügen jedenfalls als eine positive Entsprechung hier die eigenwillige Katze hinzu), das wohlschmeckende Schwein...
Aha! verwundert sich der kritische Geist und ruft zum Problem zurück, vergessen habend, daß er längst mittendrin steckt: seit der ersten Zeile.
Was bleibt: eine dämliche Konvention, makabre Übereinkunft in jeglicher Richtung anmaßender Abgrenzungsversuche.
Gleichwohl, zur Erinnerung, wir wollten über Schlimmes schreiben. Das alles wäre bereits schlimm genug? Mitnichten, lieber Leser. Nur nicht übertreiben! Es geht immer noch schlimmer. Man merke sich: die nach oben offene Skala menschlicher Niederträchtigkeiten.
Damit wird der homo sapiens (auch diese Einschätzung hat sich der Mensch selbst zugeschrieben, um so die Existenz vielfach nicht Vorhandenens wenigstens sprachlich fest-zuhalten: nämlich Klugheit) in seiner schillernden Erschei-nung gefordert: ordne ein, wähle, wäge, zetere! Der Chor des Aufheulens sei gefragt.
Unsere gemeinsame Betrachtungssau, nennen wir sie einfach aus einem rührseligen Bedürfnis nach teilweiser Wiedergut-machung (sie sehen, so ganz wirkungslos bleibt unser geisti-ger Ausflug in das Reich der Zwiespältigkeit nicht) Schnuffi - womit auch zum Ausdruck gebracht sei, daß wir dieses Schnüffeln so schlimm nun auch wieder nicht finden.
Schnuffi ist kein übliches Schwein, wie wir uns Vertreter aus Schweinereien so vorstellen. Fern jeglichem Hang zur Egozentrik, hat Schnuffi sich eine Aufgabe gestellt, die weit über die täglichen Verrichtungen zur Sicherung kärg-licher Existenz reicht. Ein selbstloses Schwein also. Bekümmert um das schlechte Verhältnis zwischen Mensch und Tierwelt, sieht sich Schnuffi in die Pflicht genommen, einen Beitrag zur Verbesserung des Loses zu leisten. Freilich, kein leichtes Unterfangen. Schlichte Notwendigkeit. Unverzichtbar.
Schnuffis Weg war kein leichter. Es galt die Anfeindungen der Artgenossen auszuhalten, durchzustehen. Nicht leicht, jemandem, der nach Geburt, mehr oder weniger seines Bewegungsspielraumes beschnitten, nur mehr den Weg in menschliche Fleischtöpfe zu leben hat, derartiges zu vermitteln. Missionare sind unter Schweinen nicht häufig anzutreffen, verständlicherweise auch nicht gerne gesehen. Vielmehr leben sie hemmungslos in ihren Futtertrogkämpfen, suchen nach den auch nur kleinsten möglichen Vorteilen. Keine Zeit für artungemäße Eskapaden.
Doch Schnuffi hat Überzeugungen. Besitzt Rückgrat. Vermag der Einfachheit, der Bequemlichkeit, der Hilflosigkeit zu fliehen. Floh aus der Gruppe, hinaus in die Einsamkeit, setzte sich dem Unverständnis aus. Es galt auszuhalten, durchzuhalten. Das Ziel schien Schnuffi jegliche Anstrengung und jedweden Verzicht wert zu sein.
Sicherlich, so wie der Mensch sich gegenüber der Tierwelt gebärdete, könne man ihn wahrlich nicht mögen, schon gar nicht lieben. Aber, so Schnuffis Gedanken, eine Änderung dieser mißlichen Zustände lag in beiderseitigem Interesse. Das Ziel schien alle Anstrengung, alle Opfer zu lohnen.
Fortan hauste Schnuffi in freier Natur, ernährte sich von dem, was auf eigene Initiative zu erhaschen war. Es war nicht leicht zu verzichten: auf die regelmäßigen Fütte-rungen, auf gesicherte Unterkunft. Aber wie trügerisch empfand Schnuffi jene Sicherheit. Er kannte längst das Ziel dieses von vielen so empfundenen Schlaraffendaseins. Andere bestimmten über sie: am Ende stand schonungslos der grausame Weg in die ekligen Schlachthöfe. Schweinedasein als Existenz für die Freßorgien, geboren aus menschlicher Maßlosigkeit. Das konnte Schnuffi niemals als Lebenssinn erfüllten Schweinedaseins annehmen. Gemästet werden, um zuletzt andere zu mästen. Allein die Vorstellung, sich hilflos und kampfvermeidend in ein vermeintlich unausweichlich Schicksal einzufügen, schien ihm unerträglich. Aber demgemäß auch noch zu leben? Niemals!
Wie gesagt, Schnuffi schaffte den Ausbruch, lebte von nun an in freier Natur, verschaffte sich kärgliche Nahrung und konnte, zwar nicht behäbig und sicher, dafür aber frei wie abwechslungsreich die Tage und Nächte verbringen.
Vor allem konnte er seinem Ziel frönen: seine unter menschlichem Einfluß leidende Tiergenossen und Genossinnen auf die, wahrlich nur spärlich, vorhandenen guten Seiten und Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen hinweisen. Anfänglich wurde er zumeist ausgelacht, stellenweise gar bedroht und fortgejagt, wenn er kam und seine fetten Hinterschenkel mit der Aufschrift "Rettet den Menschen, so retten wir uns!" präsentierte. "Immer noch besser, den Arsch mit Parolen zu beklatschen, als ihn wohlfeil aufgeteilt im Kühlhaus hängen zu sehen!" hielt er dem Spottgelächter vieldeutig entgegen. Die haben wohl vergessen, wie unersättlich das menschliche Verlangen sein kann: Hasen, Rehe, Vögel, Würmer, Schnecken, alles was kreucht und fleucht - nichts ist vor menschlicher Jagdlust sicher. Nicht nur Schwein, meine Lieben. Also hört besser gut zu.
Die meisten hörten nicht, wollten nie hören. Zu lästig sind sie, diese Worte der Wahrheit; allzu herausfordernd jene Fingerzeige auf die Straße karger Möglichkeiten. Nein, altes Schwein, gehe deinen Weg nur alleine. Ohne uns. Dieser Mensch ist nicht zu ändern. Versuche ihm zu entkommen, das ist alles, was uns bleibt. Laß das Missionieren. Auch du taugst nicht dazu. Schwein bleibt Schwein!
Schnuffi blieb hartnäckig in seinem Streben, Gegensätze aufzuheben, Trennendes zu beseitigen. Zusammenführen hieß seine Devise. Wenn er auch nicht den Panzer aufgebauten Zweifels durchdringen vermochte: der Zuhörer wurden immer mehr, sie nahmen sich allmählich Zeit für ihn und seine Ideen, tauschten wenigstens Argumente aus. So blieb die Hoffnung auf Fortschritte. Irgendwann! Auch wenn im Augenblick zumeist noch immer das alte Lied seinen Abschied begleitete. "Schnuffi, bleibe Schwein, das allein kannst du nur sein."
Er war abends immer geschafft. Allzu anstrengend waren Gespräche und Wanderschaft. Ganz zu schweigen von der gegenüber früher viel mühsameren Futterbeschaffung. Auch heute wieder war er erschöpft, beinahe noch mehr als an anderen Tagen.
Am Waldrand legte er sich im abendlichen Dämmerschatten einer Holunderhecke zur Ruhe. Wenigstens Augenblicke des Abschaltens. Minuten des Friedens vor störenden Gedanken. Wie einfach das Leben doch sein könnte, sein müßte. Das angenehme Laub, angesammelt in einer leichten Bodensenke, war ihm weiche, wärmende und willkommene Unterlage. Gleichwohl erinnerte es ihn an kommende Wintertage. Ein leichter Hauch von ängstigender Beunruhigung legte sich matt über seine Schweineseele. Der erste Winter in Freiheit. Der erste Winter, in dem er sich ganz alleine um Schutz vor widriger Witterung bekümmern müßte. Über diesen leicht trüben Gedanken schlief er ermattet ein.
Geräusche weckten Schnuffi nach kurzem tiefen Schlaf. Raschelndes Laub. Schritte näherten sich. Vereinzelte Stimmen. Zwei Frauen. Eine schien bereits älter zu sein; ihre Sprechen wirkte leicht zittrig. Auch meinte Schnuffi einen Hauch von Verbitterung heraushören zu können. Die andere, wohl viel jünger, klang im Sprechen zwar monoton, wirkte dennoch vitaler, hoffnungsfroher, optimistischer. Sie setzten sich nach Aufforderung der älteren auf eine dem Waldrand vorgelagerte Bank. Daneben eines jener Kreuze, die gläubige Bauern an ihrem Wiesenrand aufstellen, um Ruhe und Abbitte gleichermaßen zu finden.
"Jetzt geht mein Leben langsam zur Neige, und ich habe das Gefühl, erst gestern geboren zu sein. So schnell. Ist auch gut so. Habe ohnehin fast alles verloren: Mann, zwei Kinder, eigentlich drei - eins starb paar Monate nach der Geburt -, Gesundheit und Schönheit. Ich mag schon gar nicht mehr in den Spiegel schauen." klagt die eine. "Wie wohltuend sind da die wenigen Tage, die wir uns im Jahr sehen können. Du gibst mir Halt. Zeigst, wie ich hätte leben können. Trotz Kinder. Waren aber auch andere Zeiten, damals. Wenn du nur nicht so weit weg wohnen würdest." Die junge schweigt. Sagt kein Wort. Nur das leichte Säuseln der aufkommenden Abendbrise ist zu vernehmen. Die alte seufzt schließlich mehrmals vor sich hin. "Früher war ich sehr begehrt. Als junges Mädchen haben wir es toll getrieben. Hatte immer die Auswahl. Alle machten sie mir den Hof. Dann diese Ehe. Na, er war schon ein schmucker Mann. Offizier, weißt du. Das war damals schon etwas. Meine Freundinnen waren alle neidisch. Aber dann bereits mit achtzehn das erste Kind, diesen Sohn. Der Mann im Krieg. Wir allein mit den Bombenangriffen der Amerikaner. Dann die Tochter. Nochmals einen Sohn. Er starb bald, aber langsam. Schrie nächtelang. Wie alleine ich mich damals gefühlt hatte." Sie klingt irgendwie tonlos. Als hätte sie abgeschlossen. Sich vom Leben verabschiedet. Die junge schweigt noch immer.
"Dann dieses Haus am Rande der Zivilisation. Das macht fertig: nur Familie, nur Arbeit, keine großen Kontakte. Meist nur Einkaufsbegegnungen und Verwandtschaft. Das zerstört die Seele. Du bekommst ein Gefühl, als wäre das Leben schon in jungen Jahren vorbei. Als käme nichts mehr. Und die Ehe! Wir gingen uns schnell aus dem Weg, mein Mann und ich. Es gab immer wieder Lichtblicke. Jugendfreunde tauchten auf. Und vor allem der Lehrer meines ältesten Sohnes. Ich blühte wieder richtig auf. Die Magengeschwüre verschwanden plötzlich. Eigentlich wollte ich mich scheiden lassen. Aber dieser Druck seitens Verwandtschaft. Dann die Kinder. Man kann einfach nicht tun, was man möchte. Es kam noch ein Kind. Ein Junge. Mein Mann meinte, es wäre seins. Liebkoste es zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen. Ich habe es ihm nie gesagt, konnte es auch nicht. Was schadete es schon, wenn er es nicht wußte. Hätte nur sinnlose Probleme geschaffen: für alle Betroffenen. So haben wir eine Ehe durchgehalten, die schon bald nach Beginn keine mehr gewesen war. Männer wollen betrogen sein. Sie betrügen ja selbst, sich und andere. Wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte! Alles würde ich anders machen." Sie hustet. Lang und anhaltend. Lacht dann verbittert vor sich hin. Sagt noch etwas derart leise in den Abend, daß Schnuffi es nicht verstehen kann, obgleich er sich mächtig anstrengt.
Die junge Frau fragt, ob sie ihr die Jacke leihen solle. Die andere reagiert barsch und weist sie zurück. Noch vor einigen Jahren hätte das jäh aufbrausend, abweisende Verhalten irritiert. Heute weiß sie um die Nöte, die dahinter stecken. Sie weiß, daß der Gedanke an das Älterwerden unerträglich für jene ist. Daß schon die entfernteste diesbezügliche Andeutung oder Frage von der alten Dame als ein Fingerzeig auf Altersgebrechen umgedeutet werden kann. Als ob nur alte Leute frieren würden! Aber das muß man in Kauf nehmen, sucht man Kontakt mit ihr. Der Preis für die Vorteile ihrer Nähe...
"Eigentlich ist alles schon recht merkwürdig. Früher habe ich immer gedacht, daß ich zu dir deswegen nie Oma sagen durfte, weil du Angst vor dem Alter hast." antwortet sie nach langer Pause der Überlegung, wie sie fortfahren kann, ohne ihr weh zu tun. Eine gespürte Verpflichtung ihrer vorgeblichen sozialpädagogischen Bestrebungen gegenüber. "Seit ich aber weiß, daß du auch in Wirklichkeit nicht meine Oma bist, finde ich das alles viel komischer. Dein Sohn zahlt für mich und weiß nicht, daß er der Vater nicht sein kann, so wie es bei dir mit deinem dritten Kind war. Wir haben sozusagen hier eine Seelennähe, eine verborgene Interessengemeinschaft. Es ist auch nicht mein Problem, wenn sich das alles so entwickelt hat. Dein Sohn hätte das mit meiner Mutter klären müssen, nicht mit mir. Ich gebe zu, es gibt Augenblicke, da keimt in mir das Gefühl, alles zu gestehen."
Laut und heftig fällt die ältere Dame ihr ins Wort. "Unterstehe dich! Sei bloß nicht so dumm! Du ruinierst dein Leben. Der würde dich sofort verklagen und versuchen, alles zurückverlangen. Ich kenne ihn. Gegen mich hat er auch prozessiert, nur weil ich ihm ein lächerliches Erbe, nicht der Rede wert, nach seines Vaters Tod nicht ausbezahlen wollte. Er ist rücksichtslos. Laß ihn nur zahlen. Es trifft den Falschen nicht!"
"Natürlich ist er ein Blödmann. Irgendwie ist es eine gerechte Strafe. So sagt meine Mutter Maria auch immer. Sie scheint ihn regelrecht zu hassen. Keine Sorge, ich werde schon nichts sagen. Wer gräbt denn schon den Wasserlauf ab, der einen problemlos nährt. Auch möchte ich mein Studium noch gemütlich und nicht unter Stress gestalten. Wenn er nicht zahlen würde, dann müßte es halt ein anderer."
Die zwei Frauen schrecken hoch. Schnuffi ist ein lautes Gegrunze entwichen. Er wollte nicht. Hatte sich besonders bemüht, seine Anwesenheit nur ja nicht zu verraten. Gerade jetzt, wo es besonders interessant zu werden schien. Diese Form von Menschsein war ihm bislang trotz intensivster Beobachtungen verborgen geblieben.
Er war entsetzt. Sah seine ganzen Ziele gefährdet. Kam sich plötzlich vor, als trennten mehr als nur Welten die Versöhnungsmöglichkeiten dieser doch so verschiedenen Lebewesen. Der innere Ekel stieg ins Unermeßliche. Es mußte hinaus. Jetzt war er ohnehin entdeckt. So grunzte er immer wieder vor sich hin, stand langsam auf und starrte den sich entsetzt umdrehenden Weibern mitten ins Gesicht.
Sie hatten geschafft, was monatelange Anfeindungen seiner Artgenossen und anderer vom Menschen gebeutelten Geschöpfe nicht vermocht hatten: er hatte genug gehört. Er hatte Aussichtslosigkeit erfahren. Lange starrte er sie an, hypnotisierte jene geradezu auf die Bank. Immer wenn sie sich zu bewegen wagten, zwang er sie mit festem, kurzen, lauten Grunzschrei zur Starrheit.
Wie leicht hätte er sie mit seiner Fülle für immer einschränken können. Aber das hätte keinen Sinn gehabt. Er ging um die Bank, stellte sich vor die zwei Frauen, reckte ihnen, die sich immer noch nicht zu bewegen wagten, seinen Arsch ins Gesicht: mit der Aufschrift, die nun auch für Schnuffi jegliche Bedeutung verloren hatte. Er pumpte tief in seinen Organen, blies den beiden noch einen deftigen, lauten Furz mitten in die Visagen, um anschließend kommentarlos seinem neuen und gleichzeitig altem Ziel entgegenzutrotten: dem Weg in die Unausweichlichkeit.
Schwein bleibt halt Schwein...
Der Selbstmörder
Er glaubt nicht an Gott oder wie immer man diese Erfindung des sich mit seiner Unvollkommenheit nicht abfinden wollenden menschlichen Geistes nennen mag.
Damit gibt es auch keine Unsterblichkeit. Das hätten wohl die meisten so gerne! Geburt - Leben - Tod! Ende! Einen anderen Rhythmus gibt es nicht. Von wegen Wiederaufer-stehung! Aber von diesen geistlosen Eskapaden leben ganze Industriezweige, allen voran die katholische und evange-lische Kirche. Nutznießer der Angstproduktion. Auch die Politik mit ihren ekelhaften Profispießern lebt davon. Wie Maden im Speck gedeihen jene Zeitgenossen im Fleischfladen der menschlichen Unzulänglichkeiten.
Die Haare hängen ihm wirr über Gesicht und Schultern. Volles Haar, jedoch leicht ungepflegt, verfilzt. Den langen dunkelbraunen Lodenmantel hat er nicht abgenommen, obwohl es in der schmuddeligen Bahnhofsrestauration gut geheizt ist. Leichter Stoppelbart. Buschige Augenbrauen.
Das Bier vor uns ist längst schal geworden. Auch er hat es wohl nur bestellt im Glauben, daß dies so sein müßte.
Lange bin ich noch nicht draußen, sagt er. Aber ich weiß wovon ich rede. Habe doch vorher intensiv gelebt. Und überhaupt, Leben findet überall statt. Hatte ja auch meine Möglichkeiten. Gymnasium, weißt du. Die Eltern wollten, daß ich es einmal besser haben sollte als sie. Der Vater war Hilfsarbeiter und Fahrer in einer Brennstoffhandlung. Die Mutter Fabrikarbeiterin. Schichtdienst. Bis sie dann doch noch einmal ein Kind bekam. Nachzögling. Für ihr Alter viel zu spät, meint er. Für sie und fürs Kind. Kinder brauchen eine Herausforderung um sich, keine Resignation. Sonst sind sie schon chancenlos von Anfang an. Chancenlos. Er stiert durch mich hindurch, irgendwohin auf einen Punkt in der Ewigkeit. Die Augen werden leicht feucht. Zitternde Hände greifen zum halbvollen Glas, er hebt es mir entgegen. Prost! Komm, Junge, trink noch einen. Er nippt nur. Hält das Glas lange in der Luft, ehe er es mit einer müden Bewegung wieder auf die fleckige Tischplatte setzt. Wenigstens noch Holztische, stellt er fest. Echt. Gute Handwerksarbeit. Heutzutage ist alles nur mehr unecht. Ausstellungspark von Falschheiten: bei Dingen und bei Menschen.
Die Schule habe ihn damals dann irgendwann angekotzt. Nein,nicht von Anfang an. Er war stolz, auf das Gymnasium gehen zu dürfen. Die Eltern erzählten gerne von ihrem gescheiten Sohn. Aber die Lehrer und auch die meisten Mitschüler ließen ihn seine Herkunft spüren. Immer öfter und immer stärker. Er wehrte sich. Kräftig sei er schon immer gewesen. Er flog dann kurz nach Erreichen der Ober-stufenreife von der Schule, weil er so einem frechen Schnösel von Arztsohn das Nasenbein gebrochen hatte. Ein guter Schlag. Der zweite färbte das linke Auge und beendete den Kampf endgültig. Und die Schulkarriere, lacht er zynisch vor sich hin. Was er danach gemacht habe? War danach nicht so leicht, eine Lehrstelle zu finden. In der Kleinstadt war er zu bekannt. Die Geschichte mit der Schlägerei hatte sich schnell herumgesprochen. Bad news travel fast, weißt Du, wirft er mir entgegen und singt dann ungehemmt laut, daß es auch noch im letzten Winkel des Raumes zu hören ist: "When you´ve got nothing, you´ve got nothing to lose, you´re invisible now, you got no secrets to conceal." Die zwei verbliebenen Kellner lümmeln gelangweilt an der Theke und nehmen hiervon keine Notiz. Wahrscheinlich sind sie viel gewöhnt. Wartehallenatmosphäre. Auch die drei anderen Wartenden bleiben unbeeindruckt.
So ist das eben, meint er abschließend und trinkt wieder einen kleinen Schluck.
Einer hat mich dann doch genommen; ich begann eine Maurerlehre. Kräftemäßig war das für ihn alles kein Problem. Aber wenn du erst einmal deine Nase in Bücher gesteckt hast, wenn du Blut geleckt hast, du weißt schon: Philosophie und so Sachen, dann hältst du es in so einer Umgebung nicht lange aus. Zu wenig Anregung. Wenn du erst einmal alles durchschaut hast, wenn der Neuigkeitsgrad rapide sinkt, dann wird es sehr schnell langweilig. Die Leute sind schon OK, aber es ist halt doch eine andere Welt. Etwas hohle Ziele, Autos, Weiber, Saufen, du weißt schon. Und vor allem Vögeln. Ist ja nicht uninteressant, aber den ganzen Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat, das ganze Jahr, und das in Wiederholungen bis zum Tod? Nein. Wozu hat der Mensch Hirn. Ich schmiß die Lehre dann hin, so paar Monate vor der Prüfung. War mir damals völlig egal. Du hast bestimmt deine Lehre abgeschlossen, sagt er zu mir. Sieht mich streng prüfend dabei an. Das sieht man den Leuten an, wenn man nur sehen will.
Man sieht den Leuten überhaupt viel an, wenn man zu beobachten gelernt hat. Weißt du, ich habe es gelernt. Im Knast hatte ich viel Zeit. Du meinst, da wären nur doofe Leute. Weit gefehlt: da lernste mehr als auf all den staatlichen und privaten Kaderschmieden. Diese Lernfabriken! Ja, ja, im Knast lernste alles, im guten wie im schlechten.
Da hat man viel Zeit. Sehr viel Zeit.
Er schweigt nun lange, ich scheine nicht mehr da zu sein für ihn. Aus der linken Manteltasche fummelt er eine filterlose Zigarette und steckt sie sich an, als ob er nie etwas anderes in seinem Leben getan hätte. Längst habe ich aufgehört, seinen Zigarettenkonsum zu zählen. Der Aschenbecher quillt jedenfalls über. Komisch, normalerweise weiche ich den Rauchern möglichst schnell aus. Heute könnte ich ewig sitzen. Ich schaue auf die Uhr. Der Nachtzug fährt erst in etwa eineinhalb Stunden. Warten fällt diesmal leicht. Weißt du, in der Mühle biste schneller drinnen als du denkst. Ich hatte damals kein Geld. Der Vater war sehr früh gestorben. Er war schwer magenkrank. Irgendwie auch selber schuld. Hat irgendwann nicht einmal mehr richtig Mittag gegessen. Nur immer dieses dämliche Pulver gegen das ständig schlimmer werdende Sodbrennen. Lag er mal wirklich krank daheim, kam sein Chef, diese kapitalistische Ausbeutersau, und brachte Blumen mit Genesungswünschen sowie dem unüberhörbaren Hinweis, daß er ansonsten einen Fahrer einstellen müsse, denn die Kunden warten dringend auf die Anlieferung der bestellten Güter. Und mein Vater legte das auch noch als Beweis für seine Unersetzlichkeit aus, schleppte sich - auch krank - auf den Bock seines Lastkraftwagens. Dann die erste Magenoperation, danach die zweite, wenig später der Tod. Nicht einmal einen Kranz zur Beerdigung war dem Chef diese Aufopferungsbereitschaft wert gewesen. Hätte ich nur damals dem rechtzeitig die Fresse poliert. Kapitalistensau bleibt Kapitalistensau!
Ich grinse in mich hinein. Du wirst das schon auch noch irgendwann begreifen lernen, hoffentlich nicht zu spät! ist seine einzige Reaktion. Keine Spur von Gekränktheit oder Aggression...
Weißt du, im Knast lernst du dein Dasein schnell als makabres Stelldichein begreifen und handelst entsprechend. Wenn nicht, gehste völlig unter. Dort ist aber nicht der Ort dafür. Da gibt es keine Freiwilligkeit. Da kannste nicht frei wählen, selbst bestimmen. Also kämpfst du bis zur Entlassung. Freiheit als die Möglichkeit, zu handeln. Für dieses Ziel habe ich im Knast gelebt, dafür habe ich durchgehalten.
Hast du eine Vorstellung, warum man in diese Scheißmühle kommen kann, das sie als Gerechtigkeit ausgeben? Ich nicke ihm zu, in der Hoffnung, nichts sagen zu müssen. Wüßte auch nicht was. Er erzählt einfach weiter, wartet gar nicht auf Antwort. Er kennt die Antworten längst selbst, seine Antworten.
Habe mich früher, nach dem Lehrabbruch viel in den Kneipenszenen rumgetrieben. Geld mit Kartenspielen verdient. Auch ab und zu gedealt. Stoff, du weißt schon. In der Not machste schon mal so manchen Scheiß, den du in nüchterner Distanz nicht einmal mit der Kneifzange anrühren würdest. Hatte auch eine Freundin. Tolles Weib. Ging durch dick und dünn. Machte alles. Frau und Kumpel in einem. Bis sie mit dem anderen ins Bett stieg. Als ich beide dann in der Stammkneipe so sitzen sah, drehte ich durch. Verhandlung. Schadenersatz und Bewährung. Dann beim Dealen von den Bullen erwischt worden. Aus war es mit der Bewährung. Rein in den Knast. Meinst du, diesen Richterarsch interessiert dein Leben? Mitnichten. Der glotzt in seine Paragraphen, denkt an seine abgesicherte Existenz und handelt dich ab wie tausend andere Fälle auch: unbeteiligt und kalt. Wie die Wurstverkäuferin tagaus und tagein die Rädchen runtersäbelt, wie der Bahnbeamte seine Fahrkarten verkauft, wie überhaupt in dieser Geldgesellschaft entwürdigende Überlebensstrate-gien zur täglichen Notwendigkeit werden, so versteht dieser Schwarzrock sein Geschäft. Wie soll er auch allein durch sein Riesengehalt schon abgeschirmt von der Normalität weitverbreitester Existenz Gespür für Nöte dieser Menschen entwickeln können. Ist doch ein vermaledeiter Betrug: diese Geschichte von Demokratie und vorgeblicher Gerechtigkeit.
Im Knast dann alles kennengelernt, vom hilflosen und an den Umständen leidenden, einfachen Wärter bis zum sadistischen und ausbeuterischen Staatsbüttel auf der Gegenseite, von wegen Geringfügigkeiten einsitzenden Knastis bis zum soge-nannten Schwerverbrecher auf der anderen, also meiner Seite...
Er macht eine vielsagende Pause und raucht erneut. Da machste viel mit und die meisten gehen unter. Da machste Kompromisse, die du sonst nie machen würdest. Oft ekelt es einen vor sich selbst. Brrr. Er schüttelt mehrfach seinen Kopf, als könnte so die Erinnerung endgültig getilgt werden.
Irgendwann kommst du dann raus. Keine Wohnung, keine Arbeit, vor allem keine Kontakte. Beziehungslos. Your invisible now, you got no secrets to conceal. Aber vor allem: auch nichts zu teilen. Da spürst du die Brüchigkeiten des Seins erneut, nur viel stärker.
Der Sozialarbeiter habe ihm eine Tätigkeit besorgt. Endlich. Pakete im Schichtdienst laden. Monoton. Aber es hält ihn vorerst einmal über Wasser. Er wohnt in einer Gemeinschaftsunterkunft. Da haste zwar ein Dach über dem Kopf, der Magen wird voll. Aber nichts bleibt privat. Du bist Gemeineigentum. Er grinst spöttisch: eine sozialisti-sche Insel im Kapitalismus...
Ja, er hat wirklich viel gelesen. Liest auch heute noch. Holt sich Bücher aus der örtlichen Bibliothek. Er würde gerne noch viel mehr lesen. Sich auseinandersetzen. Bis er irgendwann dann zu müde würde und alle Bücher zuklappen werde...
Zukunft sieht er keine. Die hätte es aber auch nicht gegeben, wenn sein Leben in den vielzitierten normalen Bahnen verlaufen wäre. Weil es überhaupt keine Zukunft gibt, außer der, die von der Linie Geburt, Leben, Tod vorgezeichnet wird. Der Tod ist die Zukunft. Das Dazwischen lediglich ein mehr oder weniger dämliches Intermezzo, ein Vegetieren von unterschiedlicher Dauer. Die einen vegetieren auf ihren Segeljachten, die anderen in der Gosse. So einfach ist das. Aber vegetieren tun wir alle. Nur will es kaum jemand wahrhaben. Das hieße dann wohl ja auch: Konsequenzen ziehen. Wer will das schon, wer kann das schon? Die wenigsten Menschen. Fast alle - nur tumbe, dämliche Masse. We´re all just lonely travellers on the road to Kingdom Come, singt er nun leise vor sich hin.
Ich kenne seine Lieder, kenne sie in- und auswendig. Der Zeiger der großen Bahnhofsuhr rückt stetig, unaufhörlich voran. Es wird Zeit, aufzustehen. Leider. Ich lasse mich von der Pflicht in die Ferne ziehen. Die Nacht wird vom Tag, von Erwartungen - er würde es wohl Impertinenzen nennen - vertrieben werden. Das Dunkle muß dem Licht weichen. Aber es wird zurückkehren. Dieser stetige Wechsel an Unaufhörlich-keiten in der Zeit.
Ich reiche ihm die Hand. Schade, sagt er. Paß auf, daß du wenigstens mehr am Steuer sitzst als auf der Ladefläche. Du weißt schon, das Leben ist wie eine Bergeisenbahn: ein mühsames Winden hinauf und du weißt nie, was dich hinter der nächsten Biegung erwartet. Du hast recht, lache ich etwas gequält zurück und reiße mich los. Während ich auf den Bahnsteig gehe, begleitet mich das starke Gefühl, daß jener Mensch meinen Weg wieder kreuzen wird. Was ist schon das Zusammensein im banalen Alltagskreis gegen eine kurze Nacht auf der Warteschiene...
Auf dem Bahnsteig bin ich alleine. Es weht ein kühler nächtlicher Wind. Während ich die Schultern hochziehe, als ließe sich so das Frösteln besser ertragen, ertappe ich mich beim Summen einer Melodie: Life is like a mountain railroad with an engineer that´s brave. Each must make one´s way successful from the cradle to the grave.
Aber so hatte mein Gegenüber es wohl nicht gemeint. Der Nachtzug fährt ein. Nur leicht quietschen die Bremsen. Alles scheint ruhiger in der Nacht. Ich steige ein. Ein bequemer Weg auf geraden Geleisen. Für wie lange?
Simone
Ich sitze ihr gegenüber. Sie im Armsessel, ich auf dem durchgesessenen, wenngleich bequemen zweiteiligem Sofa unmittelbar unter dem Fenster. An der rechten Wand steht ein Dreisitzer. Die ganze Garnitur trägt ein dezentes altmodisches Blumenmuster. Im Zentrum des kleinen Wohnzimmers, unter einer ausladenden Lampe mit mehreren Leuchtarmen, der Glastisch: unpraktisch und häßlich, von moderner Form, getragen von schmalen Wänden gleichen, gegeneinander leicht versetzten Platten. Darauf eine bislang unbenützte Kerze. Daneben die Thermoskanne mit Kaffee.
Durch mehrmaliges Knopfdrücken, also durch Pumpen, wird ausgeschenkt, werde ich aufgeklärt. Die Tassen sind mehreckig; ich bin zu uninteressiert, zu zählen, wie viele Ecken es genau sind, die meinen Trinkgenuß mindern. Ein Lob der normalen, das heißt für mich: runden, Tassenform. Den Kuchen habe sie selbst gebacken. Besonders für mich. So erklärt sie. Schmeckt gut - so einfach als Kuchen.
Die Möbel seien aus ihrer Großmutters Wohnung. Gut genug für ihre Bedürfnisse, zumal sie als Alleinerziehende ohnehin kein Geld für aufwendige Möbel hätte.
Ich schaue auf den Wohnzimmerschrank - mir genau gegenüber. Im rechten unteren Eck blinkt ein nicht eingestelltes Video-gerät.Dies schon seit Monaten. Sie habe nicht einmal Sender einprogrammiert: sie könne das nicht. Zu kompliziert. Einige Bücher. Alte Leseringausgaben. Trivialliteratur. In der Mitte ein altes Teegefäß aus dem Osten. Ein Samowar. Ein Geschenk ihres früheren Freundes, eines Polen. Funktioniert aber nicht mehr. So wie die Freundschaft.
Sein Bild steht immer noch da: im Schrank neben einem Hochzeitsbild ihrer Schwester. Daneben ein Bild ihrer Tochter. Uneheliches Kind. Sie haßt deren Vater. Er kümmert sich überhaupt nicht ums Kind, so sagt sie. Klingt glaubwürdig nach all den Dingen, die sie mir früher schon erzählt hat.
Die Wohnung ist klein; noch ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und die Wohnküche. Miete braucht sie nicht zu bezahlen, denn das Haus gehört Tamaras Opa. Tamara, ihre Tochter, hält sich oft bei den Eltern ihres Vaters auf. Jene können damit leben, daß ihr Sohn seine Pflichten sozusagen ersatzweise auf seine Eltern übertragen hat.
Das Kinderzimmer und die Küche zeigen, daß hier gelebt wird: eine Unordnung, die sicherlích nicht kritikwürdig ist. Auch hier ist die Einrichtung einfach und zweckmäßig. Im Schlaf-zimmer steht ein breites Bett mit Messinggestell und eben-solchem Kopfende; dahinter eine Fototapete mit Südseemuster. Welche Sehnsüchte sich wohl hinter derartigem Kitsch verbergen? Mir jagen Gedanken an billige Erotik durch den Kopf. Kitsch. Hier treibt sie es also. Kaufhausmöbelab-teilungsatmosphäre. Ich frage. Ihr gefalle die Tapete auch nicht, sie hätte gerne eine andere Fototapete gehabt. Aber ihr Bruder habe diese besorgt und, ehe es zu verhindern war, hingeklebt. Nun hänge sie eben.
Das zieht mir so schnell durch den Kopf, während Simone von ihrem Einkaufs- und Putzstress erzählt. Überhaupt, wie es bei ihr wieder ausschaut, meint sie entschuldigend. Und überflüssigerweise!
Ich halte die Tasse in der Hand, der Tisch steht mir zu weit weg. Sie zuckt häufiger nervös mit den Augen. Das dichtgelockte, braune, lange Haar hängt ihr größtenteils auf die Schultern, einige Strähnen ins Gesicht, vor allem wenn sie sich vornüber beugt. Sie scheint die widerspenstigen Haare so zu bearbeiten, daß die braunen Flecken auf ihrer Stirne verborgen bleiben sollen. Warum eigentlich? Sie sind nun einmal da.
Simone schult um. Sie bedauert, daß sie nur die Volksschule hat. Und die nicht besonders gut abgeschlossen. Ein schlechtes Zeugnis mit noch schlechteren Bemerkungen, was ihr damaliges Verhalten angeht. Obwohl sie mittlerweile beruflich schon so einiges gelernt und geschafft hat: die fehlende dokumentierbare Bildung hängt ihr schwer nach. Sie sucht nach Verantwortlichkeit. Wird fündig. Ihre Mutter. Wenn die damals strenger mit ihr gewesen wäre! Viel mehr hätte sie erreicht...
Der Vater war damals schon schwach, ohne Einfluß. Die Eltern hatten sich frühzeitig scheiden lassen. Simone mußte als junges Mädchen ansehen, wie ihre Mutter die Freunde ins Haus holte und dann nicht gestört werden durfte. Auch sie konnte treiben, was sie wollte. Schon damals, mit vierzehn, konnte ihr Freund bei ihr übernachten. Kein Problem. Die Mutter schwieg. Auch gab es nie Schwierigkeiten, wenn sie erst spät nach Hause kam. Es war stets problemlos. Bis dann die erste Schwangerschaft kam. Viel zu früh. Eigentlich war sie fast noch ein Kind. Halt frühreif. Das Problem mußte gelöst wer-den. War ja noch schulpflichtig.
Nie würde sie ihrer eigenen Tochter so etwas durchgehen lassen! Keine Erziehung sei falsche Erziehung. Ein Kind brauche das Gefühl, daß dem Verhalten Interesse entgegen-gebracht werde. Erfahrene Gleichgültigkeit erzeuge Gleich-gültigkeit eigenem Leben gegenüber. So könne keine Verant-wortungsbereitschaft entstehen.
Und jetzt schule sie um. Einfach mehr Chancen haben, beruflich und privat. Aber auch das brächte bislang nicht viel. Zu schlecht sei die vom Arbeitsamt geförderte Privatschule, zu viele der Umschüler hätten gar kein Interesse, säßen nur dumm im Unterricht herum und störten die wenigen Lernwilligen. Die Lehrkräfte könnten sich nur schlecht oder gar nicht durchsetzen. Keine guten Voraus-setzungen.
Männer gäbe es schon einige in ihrem Leben. Aber lange halte sie das nie aus. Zu schnell werde alles zum Trott. Alltagstrott. Vor kurzem wäre einer gewesen: auch alleinerziehend. Anfangs hatte sie es sich vorgestellt, mit ihm das Leben gemeinsam zu meistern. Aber er log zu viel. War einfach unehrlich, am meisten zu sich selbst. Und dann nur Hilfsarbeiter. Kein Niveau. Aber geschlafen habe sie mit ihm; es hat sich halt so ergeben.
Sie hat zwei, drei Freundinnen. Na ja, eine redet immer nur von ihren eigenen Problemen. Schläft zur Zeit mit drei ver-schiedenen Männern. Wäre ihr ein wenig zu stressig. Wie sie da überhaupt ruhiger und vorsichtiger geworden sei.
Die andere putzt den ganzen Tag nach ihrer Halbtagsarbeit im Haus herum. Eine nette Frau, aber zu zwanghaft. Sie merke es auch an deren Tochter, die Wochenende manchmal bei Tamara verbrächte. Die Gespräche mit ihr reduzierten sich meist auf den Haushalt und familiäre Ereignisse. Ihr Mann habe im Fasching schon mal versucht, sie anzumachen. Aber erstens gefällt ihr der nicht besonders und zweitens möchte sie der Freundin nicht weh tun. Die glaubt ja so fest an die Treue ihres Holden.
Gerne würde sie mehr richtigen Sex haben. Manchmal träume sie, von zwei Männern hart und gewaltsam genommen zu werden. Stundenlang. Hemmungslos. Aber in der Wirklichkeit würde das ohnehin nicht funktionieren. So lebt sie halt vor sich hin und träumt und versucht es manchmal in bescheideneren Bahnen. Männer seien ohnehin meistens recht langweilig. Und wenig einfühlsam. Und meistens nur brutal und heftig. Wollen sich nur abreagieren. Am liebsten hätte sie beides: ungebremsten Geschlechtsverkehr und Zärtlichkeit gleichzei-tig. Wunschphantasien seien das wohl. Freitags gehe sie gerne und oft in eine nahegelegene Diskothek. Sie tanze leidenschaftlich. Man könne da auch öfters jemanden kennen-lernen. Aber entweder seien die entsprechenden Männer schon besetzt oder kaputt. Oder eine Mischung von beiden Nachteilen. Sie lacht dabei laut vor sich hin...
Am meisten hänge ihr die versaute - wie sie sich ausdrückt - Schulzeit nach. Hätte ihre Mutter nur damals... Womit sie erneut beim eigentlichen Thema wäre. Zum wievielten Male eigentlich? Es scheint tief zu sitzen. Ich halte ihr entgegen, daß sie hier Dinge vergleicht, die einfach unvergleichbar sind. Wie hätte sie wohl seinerzeit reagiert, wenn ihre Freiheiten und der mögliche freizügige Lebens-wandel damals von ihrer Mutter beschnitten worden wären. Mit fünfzehn Jahren zählt bei den meisten doch nur die Sorge um seelisches und leibliches Wohl. Keine Möglichkeit für Be-dürfnisaufschub. Nicht nur wegen der eigenen spontanen Wünsche. Auch wegen des Gruppendrucks der jugendlichen Bezugspersonen. Die entfachte Lust schreit weißgott nicht nach Schulbildung. Das habe ich selbst nur allzu tief erlebt. Im übrigen macht es niemals auch nur irgendeinen Sinn, vorwurfsvoll zurückzublicken. Vergangenes mag ruhen, läßt sich nicht ungeschehen machen. Lernen könne man davon, aber leider läßt sich viel aus den früheren Erfahrungen nicht mehr umsetzen; es gelten nun halt andere Schwerpunkte.
Ich merke die Verschmelzung der Gedanken, ich spüre Bemühen um Verständigung. Es ist alles so ehrlich, so offen, so ohne jegliche Scheu. Wohltuend. Sie ist sehr nett. Sehe ich in ihr nur den interessanten, weil offenen, Gesprächspartner oder auch die Frau, die volle sinnliche Weiblichkeit? Allein dieser Gedanke scheint mir absurd. Längst kennen wir uns zu lange, haben miteinander immer nur geredet: wahrscheinlich viel zu viel, als daß noch Platz für Regungen anderer Art bliebe...
Studienlust
Nun ist es wieder einmal geschehen, daß ein echter Professor, ein Mann vollkommenen Geistes, Yvonne über seinen Schreibtisch gelegt hat. Es gefiel ihr, inmitten dieses geistigen Unrats zu ficken. Sie fickt leidenschaftlich. Der Ausdruck gefällt ihr. Mögen ihn andere für ordinär halten, für sie ist er ein Stück Hemmungslosigkeit. Unkontrolliert-heit. Lustvolle Geilheit. Sie ist gerne geil. Bereitwillig spreizte sie ihre Schenkel dem Professor entgegen. Sollen die Männer doch immer meinen, daß sie erobert haben. Das schwache Geschlecht besiegt haben. Diese Narren! Die Fäden zieht letztlich sie selbst; sie allein trifft die Auswahl. Natürlich wird es ihr in den meisten Fällen nicht schwer gemacht. Die allermeisten ihrer Auserkorenen waren leicht verführbar. Völlig problemlos. Allenfalls die Furcht vor Entdeckung bereitete Probleme. Aber vögeln wollten sie letztlich alle immer.
Es bereitete ihr einfach Spaß, diese Geistesakrobaten zu erobern. Freilich, wählerisch geht sie hierbei sehr wohl vor. Ohne jegliche Gefühle könnte sie sich nie und nimmer mit einem Mann einlassen.
Und mit Hanns machte es ihr besondere Freude. Für Yvonne war es Verliebtheit und körperliche Anziehung gleichermaßen. Schon als sie ihn erstmals bei der Vorlesung erlebte, war sie begeistert. Sicherlich, damals war sie noch naiver: glaubte und hoffte, durch intensive geistige Auseinander-setzung zur Wahrheit, zum Leben vorzustoßen.
Groß und schlank stand Hanns damals hinter seinem Pult. Sportlich trainiert wirkte er, leicht gebräunt. So hatte sie sich immer einen Erfolgsmenschen vorgestellt: gescheit, selbstbewußt und doch lässig. Auch ihre Kommilitoninnen waren fasziniert von diesem Mann. Wie sie alle über ihre halblauten, anzüglichen Bemerkungen kichern mußten! Phantasien flogen auf Wortflügeln durch den Raum, flatterten jedoch weit vor dem Adressaten ungehört zu Boden. Wie kleine Teenager entdeckten sie die in längst vergangenen Schultagen geübte Kunst des Briefchenschreibens wieder. Es war einfach kurzweilig und lustvoll, wenn Hanns dozierte.
Das erste Mal. Er sprach über "Die Bedeutung didaktischer Aspekte im Rahmen innovativer Unterrichtsgestaltung". Wie sie alle damals noch hoffnungsvoll an seinen Lippen hingen. Diese Lippen, diese Zunge: was sie wohl noch so alles machen könnten! Es scheint Yvonne nun wie eine Ewigkeit, daß diese Welt der großen Wörter ihre beinahe berauschende Attraktion ausüben konnte. Diese Faszination hat sich mittlerweile längst gelegt und von starker Enttäuschung getragener Ernüchterung Platz gemacht. Vor allem an jenen Tagen, die zur Praxis an die verschiedenen Schulen, in allzu reale Klassenzimmer führen, keimen Zweifel, drohen Ohnmachts-gefühle. Diese Wörter aus den abgeschotteten Geisteshallen werden ihr später im Berufsalltag eher Last denn Hilfe sein. So ihre zunehmenden Befürchtungen. Mit diesem Niedergang der Anfangseuphorie legte sich ebenso die Bewunderung für die von Hanns dargebotene Arbeit...
Sie mochte sein geschmackvoll gestaltetes Arbeitszimmer. Hier in diesem Raum, inmitten dieses ganzen unsinnigen Geistesmülls, tat es ihr besonders gut, sich der körper-lichen Lust hinzugeben. Für sie war es, als wischte sie den penetranten Versuchungen, ein Leben fernab natürlicher Bedürfnisse führen zu müssen, eins aus. Und das im Zentrum der selbsternannten Denkfabrik, der Lebensferne, wie sie zunehmend empfindet. In letzter Zeit häuften sich die Wünsche, all diese sinnlosen Aufzeichnungen, alle Bücher einfach im Abfall zu entsorgen, um sie so sinnvollerem Dasein zuzuführen. Kürzlich fuhr sie im Traum einen Container voller Universitätskonzentrate zu einem Papierver-werter, der ihr sagte, daß aus diesem ganzen Abfall nun Klopapier gemacht werde. Scheiße kommt wieder zur Scheiße! sagte jener und lächelte sie fröhlich an. Wachgeworden, mußte sie laut vor sich hin lachen. Das könnte eine echte Aufgabe sein. Sich von jenem Müll befreien. Dazwischen steht jedoch noch ihre Zerrissenheit. Welchen Weg soll sie gehen?
Immer häufiger kommt ihr der Gedanke an die Sinnlosigkeit dieser universitären Studiererei. Was ließe sich stattdessen alles tun! Wie anders könnte man leben! Wären da nur nicht diese ekligen Zwänge der Absicherung materieller Notwendig-keiten inmitten des monotonen Daseins: Wohnungsmieten, Heizung, Strom, Kleidung, ja und vor allem CDs, dann Reisen, um dem Trott wenigstens ab und an zu entrinnen, auch fordert der Italiener um die Ecke wenigstens zweimal wöchentlich seinen Tribut für Pizzafladen und billigen Wein, und, und, und...
All dies und leider noch viel, viel mehr schießt ihr nun schon auf mehr oder weniger unangenehme Weise durch das Innenleben. Hanns sitzt ihr gegenüber. Er wirkt noch leicht gestört vom Geschlechtsverkehr. Nestelt immer an der Kleidung herum, prüft seinen Hosenschlitz. So als könnten verräterische Zeichen alles auffliegen lassen. Yvonne findet es lustig, wie er sich immer Gedanken wegen der drallen, aufgetakelten Sekretärin macht. Die weiß doch ohnehin längst alles. Die legt bestimmt ihr Ohr an die Türfüllung, wenn sie lustvoll keuchen und stöhnen. Hanns glaubt das nicht. Während seiner unaufhörlichen Aufräumarbeiten spricht er von der Notwendigkeit einer Untersuchung schülerorientierter Unterrichtsverfahren im multikulturellen Klassenverband. Wie hätte sie vor Monaten noch gestaunt, angesichts solch mächtiger Problemfragen. Heute empfindet sie das schlicht als aufgeblasenes Gewäsch. Pseudowissenschaft! Er betont immer wieder die Bereicherung für unser aller Leben durch -wie er sich ausdrückt - den Facettenreichtum dieser kulturellen Verschiedenartigkeit. Das allein habe Zukunft, führe nach vorne.
Ob er das alles wirklich selbst glaubt? Ob er überhaupt irgendwelche diesbezügliche Erfahrungen jemals gesammelt hat? Sie schläft zwar mit ihm seit einiger Zeit in mehr oder weniger großen Abständen, sie gehen auch - leider zu selten- miteinander aus, aber über seinen wahren Hintergrund weiß sie nur wenig. Er ist ein Meister des Versteckspiels. Seine Waffen sind Wörter, Wörter, Wörter.
Nein, dieses einfältige Gelabere. Geistesgesabbere. Unerträglich. Immer unerträglicher. So fern dem Leben. Dabei könnte er so nett sein. So richtig Mann, wie sie ihn sich in ihren Träumen, vor allem auch nach Enttäuschungen, immer wünscht. Sie sollte aufstehen und ihren Professor einfach nochmals ausziehen. Soll er doch diesen ganzen Käse seiner Frau beim Abendessen oder sonst irgendwann und irgendwo erzählen. Sie mag das Professorchen nackt am liebsten. Eigentlich nur nackt. Denn dann erlebt sie ihn in einer anderen Welt. Einer schönen, saftigen Welt. Weg von diesen dürren hohlen Phrasen.
Wie sie überhaupt sehr gerne anziehende Professoren auszieht: Nacktheit als sichtbare Realität, als Näherung zur Wahrheit. Wenn es überhaupt Wissenschaft gibt, dann muß sie so beginnen. Zuerst die Ursprünglichkeit. Zurück zum Schweiß. Wie gerne sie an Männerachselhöhlen riecht. Ginge es, würde sie hineinkriechen.
Professoren entkleiden: Umdrehen der Abhängigkeiten. Hier hat sie schon echte Mannigfaltigkeit gelebt, geliebt und erlebt. Draufgängerische Potenzakrobatik, zärtliches Dahinschmelzen, kurzfristiges Aufbäumen gegen den Zerfall des Bildes geistiger Einzigartigkeit, Schlappheiten und in der Folge ernüchternde Enttäuschung, rhetorisches Gewinsel und Phraseologien sexueller Wunschvorstellungen und eine nicht aufschlußreiche Fülle an nicht gehaltenen Ver-sprechen...
Das ist ihre Multikulturalität. Schwanzkultur. Dieses reizvolle Aufschließen von Erwartungshorizonten mit dem prickelnden Gefühl für kommende Enthüllungen. Schenkreize: was die Verpackungen wohl verbergen?
Nicht daß sie Nymphomanin wäre, so möchte sich Yvonne nicht sehen. Diese Einschätzung hielte sie für maßlos übertrieben. Nein, aber der Reiz, der Drang, diese geistigen Ritter ihrer Universitätsrüstung zu entkleiden, sie der Wirklichkeit zuzuführen, treibt sie an. Was soll da Prüderie? Leben muß Lust sein. Ein wenig Hedonismus, woimmer möglich, man gönnt sich ja sonst nichts! Angesichts der Welten zwischen ihren gegenwärtigen Gedanken und dem Referierorgasmus von Hanns muß sie laut glucksen. Wollte es zwar nicht, aber es ließ sich einfach nicht mehr unterdrücken. Er merkt es nicht, oder übergeht es einfach. Ist ihr auch gleichgültig. Sie möchte von Hanns anderes. Er kann nackt ganz gut mithalten. Enttäuscht nur wenig. Wenn bei ihm nur vorher und hinterher nicht diese Ängste wären. Das erzeugt Umständlichkeiten. Nimmt Lust. Mindert Freude und Erleben.
Sie muß ihn aufwecken, aus seinen sinnlosen Träumen reißen. Sie möchte Hanns für sich. Zumindest für eine lange, lange Zeit. Vielleicht auch für immer. Dann bräuchte sie womöglich keine anderen mehr...
Noch läßt sie ihn reden. Er redet und redet. Da fühlt er seine Sicherheit. Sicher. Hinhören mag sie schon nicht mehr so gerne. Zu sinnlos dieses Gerede. Stiehlt wertvolle Zeit. Zeit, die sie nützlicher verbringen könnten. Diese endlosen Wiederholungen von Nichtigkeiten. Redundanzmonster!
Multikulturell, daß ich nicht lache! Für mich ein kleiner, nur selten erlebter Ausschnitt von Möglichkeiten humaner Daseinsformen. Mehr Theorie denn Wirklichkeit. Märchen-phantasien. Wo hat das denn schon einmal so geklappt, daß es erwähnenswert wäre, von Vorbild sein könnte? Was ist aus den sprichwörtlichen Vielvölkerstaaten geworden? Alle driften sie auseinander, nicht zusammen.
Sie sieht durch Hanns hindurch. Auf die Wartehalle im Hauptbahnhof, auf die Vielfalt multikultureller Dealer, auf das Kaleidoskop krimineller Verhaltensweisen, auf Leute, die täglich einer mehr als ungeliebten Arbeit nachgehen und mit ihren Lohnabzügen helfen müssen, all diese bizarren "Bereicherungen" zu finanzieren. O Hanns. Dummer, naiver Hanns.
Sie sieht in Gedanken hinein in Klassenzimmer, wo Kinder aus sechs verschiedenen Nationen kaum Deutsch sprechen und keinen Unterricht zulassen, der irgendjemanden auch nur im entferntesten gerecht würde, schon gar nicht der verbliebe-nen deutschen Minderheit. Als ob diese Kinder - alle! - nicht ihr ureigenstes Recht auf angemessene Förderung erhalten müßten. Da sollte Hanns einmal unterrichten müssen! Multikulturalität hier als Hemmnis möglicher Entwicklungen, nicht als Chance...
Diese Urlaubsträumereien! Ein Klassenzimmer ist nun einmal kein Basar, keine südländische Hafenpromenade, schon eher ein Ort babylonischer Sprachverwirrung...
Wo Hanns wohl lebt, wenn er nicht gerade in seinem vermieftem Büchersammelsurium haust!
Yvonnes Grinsintervalle werden immer kürzer und auffälliger. Hanns wird nervös. "Habe ich etwas undeutlich ausgedrückt? Du lachst so komisch!" "Erstens lache ich nicht, sondern grinse nur und zweitens ist an allem schon gar nichts mehr komisch." Hanns hätte spätestens jetzt die Alarmglocken hören müssen. Aber so einer hört immer erst sehr spät, wenn überhaupt. Zu spät ist es dann in jedem Falle.
Yvonne spürt in sich einen ungebremsten Drang, wie beim Übergeben. Sie muß es endlich auskotzen! Geistigen Stuhlgang erledigen. Beherrschen, Rücksichtnahme, das Gesicht wahren, wie immer man es auch nennen mag: es funktioniert nicht mehr. Zumindest nicht in diesem Augenblick. Zuviel hat sie in sich hineinstopfen lassen.
Andererseits, weil sie einen Teil von ihm auch zu lieben glaubt, schafft sie es, bei dieser Offenheit dennoch freundlich zu bleiben. Sie schaut ihn gleichermaßen bittend und herausfordernd an: "Hanns, sei nicht beleidigt, aber seit Wochen verliere ich immer mehr die Kraft und auch die Lust, mich mit diesen hohlen Phrasen, mit diesem geistigen Müll, auseinanderzusetzen. Scheinwelt. Lügenscheune. Ihr merkt gar nicht, daß diese Welt außerhalb eurer maroden Mauern tod ist. Eigentlich ist sie es auch hier. Ihr Geistesleichen. Geh doch einmal hinein in eines dieser multikulturellen Klassenzimmer und halte dort deinen schülerausgerichteten Unterricht. Alles Quatsch. Unsäglicher Mist. Nichts von dem, was du uns groß verkündest, funktio-niert in der Schulwirklichkeit. Nichts! Aus Büchern baut ihr Professoren zusammen mit eueren Lakaien euch eine Schein-welt. Und keiner wagt es, daran zu rütteln. Wahrscheinlich vor lauter Angst, dieses marode Fundament professoraler Ergüsse könnte endgültig zusammenkrachen und allen würden dann die Augen geöffnet. Dumm und eklig zugleich. Hanns, höre auf zu reden. Wache endlich auf!"
Yvonne geht zur Türe, dreht den Schlüssel leise herum. Kess dreht sie sich um, blickt ihren Professor verliebt und lustvoll an. Ihre Brustwarzen drücken feste Formen in ihr weißes T-Shirt, das bunte Kleid legt sich leicht um ihre schlanken, langen Oberschenkel und schmiegt sich in das Dreieck gemeinsamer Verborgenheiten. "Komm, zieh dich nochmal aus. Ich möchte es mit dir treiben. Da gefällst du mir viel, viel besser als mit deiner Doziererei. Da bist du wenigstens wirklich."
Sie setzt sich neben Hanns, auf die Lederlehne des Sessels, und krault mit den Fingern der linken Hand in seinem krausen Haar. Langsam, zärtlich und verführerisch zugleich, schiebt sie die rechte Hand unter seinen Ökopullover, mit dessen Kauf er versucht, Pandabären zu retten. Zärtlicher Narr, denkt sie. Liebeswallungen strömen durch ihren Körper. Sie neigt ihr Gesicht zu ihm hinunter, ihre lange Haaren spielen auf seinen Wangen. Sie möchte ihn küssen, in ihn dringen. Sie spürt tiefe Zuneigung. Der ungute Vortrag ist längst vergessen...
Hanns schiebt sie, für Yvonne völlig unerwartet, weil unge-wohnt, von sich. Er wirkt richtig barsch. Schroff. "Ich will und kann jetzt nicht mehr. Diese persönlichen Angriffe. Die-se Angriffe. Unsachlich. Unwissenschaftlich. Schlicht dumm. Dämlich." Es fehlen ihm - ihm, dem Meister der Wörter! - die Worte.
Diese tiefgehenden Kränkungen. Nach all dem Vorgefallenen jetzt miteinander schlafen? Wie sollte das funktionieren. Diese Welt versteht Hanns nicht. Alles Porzellan ist zer-schlagen worden. "Geh fort! Ich kann nicht. Das war mir zuviel. Zuviel der Mißachtung! Unverschämte Gering-schätzung!"
Müde und erschöpft wendet er sich von Yvonne ab, geht zum Fenster und starrt auf die Baukräne, die ihre langen Gitterarme leicht im Wind hin und her bewegen. Das ist es also. Das war es also gewesen. Hanns fühlt sich allein. Der einsamste Mensch auf der Welt. Wenn er nur im Erdboden versinken könnte! Er möchte am liebsten sterben, zumindest im Augenblick.
Er will festhalten und loslassen gleichermaßen. Das Unmög-liche möglich machen. Der Gedanke erschreckt ihn. Hatte Yvonne vorhin nicht genau das, auf seine Arbeit gewendet, kritisiert?
So endet es also. "Yvonne, es ist besser, wenn du jetzt gehst."
Pausen können endlos sein, so unerklärbar endlos. Ihm ist es, als höre er die Sekunden seines Lebens pochen. Er spürt nebelhafte, dichte Schleier um sich entstehen. Staubkörner des Schweigens scheinen ihn zu umhüllen.
Langsam, wieder etwas gefaßter wirkend, dreht er sich um. Er wählt die Sprache seiner Sicherheit. "Glaubst du wirklich, es hat Sinn und Zweck, wenn du mit dieser Einstellung gegenüber anerkannten und abgesicherten geistigen Erkennt-nissen diesen anspruchsvollen Berufsweg in ein Lehramt weiter verfolgst?"
Sie grinst ihn überlegen an: "Verstanden hast du von dem, was ich dir vorhin gesagt habe, wohl nicht sehr viel!"
Ihre Sicherheit verunsichert ihn. Er verliert leicht die Fassung. Böse und ungerecht giftet er zurück: "Faschistische Henne! Rechtsradikales Dummerchen!" Hanns ist fleckig im Gesicht. Was soll er sich denn von einer solchen Göre noch alles gefallen lassen. Ist doch auch wahr... Die Gedanken jagen ungeordnet durch das Labyrinth seiner Nervenbahnen. Er ist fertig. Mit sich im Moment, mit Yvonne für immer.
Sein innerer Feind gewinnt nach langer Zeit plötzlich einmal wieder Oberwasser und meldet sich schelmisch aus tiefsten Seelenzonen mit Gedankenstacheln, die selbst entfernteste Organe zu schmerzen scheinen: "Hast aber geschlafen mit dieser Henne, Professorchen. Bist wohl auf sie hereingefallen, sofern du richtig liegst mit deinen Geifereien. Was nun? Soll dich deine Frau trösten? Wohl doch nicht so gescheit, wie du immer tust... Oder hat sie gar recht? Oder wirst du nur alt, hilflos alt?" Dieser Seelenteufel! Quälgeist! Muß er ihn gerade jetzt so plagen. Hätte er nicht wenigstens warten können, bis sie verschwunden gewesen wäre! Wenigstens spricht diese Satansbrut nicht laut. Kann sie in seinem Gesicht lesen? Hat dieser Dämon in seinem inneren Monolog Spuren im Antlitz gezogen? Wie um etwaige Hinweise wegzuwischen, fährt Hanns mehrmals über seine schwitzende Stirne. Sie wirkt fettig. Er säubert, was er sonst nie tun würde, seine Hände an der Hose.
Hanns wird noch böser. Er kann das Gefühl der Unterlegenheit nicht ertragen. Es zu verbergen, fällt immer schwerer. Sie darf nichts merken. Er verbirgt sich hinter Förmlichkeit: "Yvonne, du gehst jetzt. Bedenke deine Worte und teile mir bis Anfang nächster Woche mit, ob du dein Studium mit dem nötigen Ernst, der geforderten Bereitschaft und der gebotenen Achtung fortführen kannst. Wenn nicht: ich lehne es dann ab, dich weiter zu betreuen!" Hanns geht zur Türe, um sie Yvonne zu öffnen, um Endgültigkeit zu schaffen.
Yvonne, die sich längst wieder in den zweiten Sessel hatte fallen lassen, erhebt sich, nimmt ihre Handtasche und erwidert ruhig, überlegt und spöttisch: "Mein liebes Professorchen, wie meinst du das mit der Betreuung? Geschlechtlich oder fachlich?" Hanns verschlägt es die Sprache, er wagt es nicht mehr, die Türe zu öffnen: wer weiß, was Yvonne alles noch auf dem Weg durch das Vorzimmer von sich geben würde. Sein Ruf könnte ruiniert sein. Er will sich nicht zum Gespött machen lassen. In seine Verwirrung sagt Yvonne mit ernsthafter Stimme und festem Blick, wie er es an ihr noch nie erlebt hatte, und ohne jeglichen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung zu lassen: "Meine Entscheidung steht. Erstens ist diese Art der sogenannten wissenschaftlichen Beschäftigung sozialer Pseudokram, sozusagen ein langweiliges Gesellschaftsspiel, nur leider zu teuer für die hart arbeitenden und steuerzahlenden Bevölke-rungskreise. Vor allem aber zu dämlich, als daß ich damit auch nur winzigste Teile meines weiteren Lebens verbringen möchte. Und zweitens, wenn du es nicht schaffst, dieses Tun wenigstens etwas kritischer zu hinterfragen, dann kann ich dich ohnehin nicht mehr ernst nehmen. Dann kannst du auch deinen Schwanz in deiner vergeistigten Hose lassen. Tschüß!" Sie blickt ihm ein letztes Mal fest in die Augen, macht abrupt kehrt, dreht den Schlüssel diesmal in die andere Richtung und geht.
Ratlos bleibt Hanns zurück. Er schließt die Türe und dreht den Schlüssel wieder im Schloß , wie es zuvor Yvonne immer getan hatte, wenn beide Herzen die Melodie des Gleichklangs schlugen.
Verläßlichkeit
Zwei Jugendliche setzen sich zu einem Mann mittleren Alters auf die Bank. Sie kommen oft hierher, denn außer den Kinotreppen und diesem kleinen Park bietet der Ort nichts für Dreizehnjährige. So sehen sie es zumindest und somit ist es für sie auch so. Es macht Spaß, Leute zu verarschen, wie sie es nennen. Das ist Lebensinhalt. Mit diesem Mann haben sie endlich für heute ein Opfer entdeckt. Das noch sehr schwache Ich läßt sich für Minuten aufmöbeln. Das Opfer scheint unproblematisch: drei leere Bierdosen neben ihm lassen die Kinder dessen Hilflosigkeit instinktiv erahnen. Das gibt Mut, das macht dreist, das erzeugt Hemmungslosigkeit.
Sie erzählen kindhaftem Gemüt entstammende Aufschneidereien, die leicht lallenden Bemerkungen des Alten, wie sie ihn empfinden, spornen an: wettbewerbsmäßiges Überbieten im Geschichtenschwall wird geübt. Selbst die verhaßte Schule muß nun als Beweis für eigene Größe herhalten. Aus Helmut, einem wahrlich nur einfachen und durchschnittlichem Schüler wird das kommende Genie. Dieser Möchtegerngymnasiast. Zweimal hat er schon Anläufe genommen, weiterführende Schulen zu besuchen. Ebenso zweimal ist er kläglich gescheitert. Aber hier auf der Parkbank sitzt er nun als Klassenprimus in der gymnasialen Mittelstufe. Sein Freund Florian versucht, ihm in nichts nachzustehen. Auch er hat schon zweimal Versuche gestartet, die Hauptschule zu fliehen. Scheiterte jedoch bereits wegen schlechter Leistungen an den Aufnahmekriterien. So hat er statt dessen seine Laufbahn als Klassenkomiker eingeleitet. Wenigstens hat er hier ein recht sicheres Gespür für eigene Talente entwickelt.
Wie willkommen sind die eingetrockneten Flecken auf der Hose des Trinkers, wie einladend die teilweise verklebten Haare im zottigen, mittellangem Bart - sie geben fruchtbaren Boden für spöttische Bemerkungen: zwei junge Zukurzgekommene haben ihr älteres Gegenstück gefunden, ohne dies jedoch erkennen zu können.
Wie bei Betrunkenen häufig, so versteht auch dieser Herr die Ungezogenheiten nicht. Vielleicht will er sie auch überhören, weil Einsamkeit das noch größere Übel als die Gesellschaft jener Kinder ist. Er spricht mühsam, immer wieder von Pausen lallenden Gestammels unterbrochen. Die Augen füllen sich ab und an mit Tränen, vor allem, wenn er von früher erzählt. Früher, als er nicht alleine war, als es ihm besser ging. Jetzt sei er krank, könne nicht mehr arbeiten, es bliebe fast nur mehr das Saufen. Und oft wäre da diese Traurigkeit.
Helmut und Florian finden das alles recht lustig. Laden den Alten zum Wettlauf und Fußballspielen ein, fragen ihn, ob er noch häufig bumst. "Komm, alter Opa, sauf noch ´was!" fordern sie ihn auf. Dieser Gedanke fällt auf fruchtbaren Boden, verspricht Abwechslung. Wenigstens ein kleiner Hauch von Zukunft. Wieder trinken.
Die Jugendlichen bieten an, vom nahegelegenen Markt für ihn etwas zu holen. Bringt Bier, paar Dosen, für euch auch! sagt er und gibt ihnen einen Zwanzigmarkschein.
Helmut und Florian stecken das Geld ein, gehen und kehren nie wieder zurück. Leicht verdientes Geld.
Der hätte das doch eh bloß versoffen, so war das noch ein gutes Werk. Der alte Arsch braucht das Geld ohnehin nicht. Ich würde das sofort wieder tun. Der hat das nicht einmal gemerkt, war ja betrunken. Ist selber schuld. Und im übrigen sei das alles recht lustig. Macht so richtig Spaß...
Ich hatte es in den letzten zwei Schuljahren nicht ein einziges Mal erlebt, daß diese beiden jungen Raubritter ihren Geist auch nur in entferntester Weise so angestrengt hatten, wie in diesem Augenblick der Rechtfertigung...
Verwechslung
Es gibt Briefe, die erhält man nicht oft, meistens nie. Zu jenen möchte ich den zählen, der mich sozusagen aus heiterem Himmel erreichte. Diese Überraschung bezieht sich jedoch nicht, wie vielleicht so mancher erwarten würde, auf das darin mitgeteilte Erbe: den dritten Teil der Hälfte eines mittelgroßen Hauses.
Dieses Haus hatte meine Tante, die Schwester von Vater, zusammen mit ihrem Lebensgefährten gebaut. Diese Tante war nun gestorben, längere Zeit schwer krank, jedoch von ihrem Lebensgefährten nicht mit ihrem tapfer ertragenen Leid im Stich gelassen. Dies heutzutage keine Selbstverständ-lichkeit.
Wie gesagt, nicht dieses Haus ist es, was mich überraschte. Auch deshalb nicht, weil ich seit Kindertagen zu meiner Tante gar keinen Kontakt mehr pflegte: es war einfach eine andere Welt, vor allem weit, weit weg. Ich war noch nie ein Meister im Überwinden großer räumlicher Entfernung, wenn es um regelmäßiges Aufrechterhalten von Kontakten geht. Das hat mit Sympathie oder Ablehnung, jedenfalls was meine Person angeht, nichts zu tun. Nein: die Überraschung war der Brief des Lebensgefährten, in dem er alte Zeiten beschwor und mitteilen ließ, daß er sich noch gut an mich erinnern kann, an damals, als ich - angeblich - als Jugendlicher meine Ferien so oft bei Martha, so hieß die Tante, und ihm verbracht hatte. Er war damals Bademeister in der Nähe von Gummersbach und ich hätte eifrig im Schwimmbad in jugendlichem Übermut geplätschert. Auch hätte ich der Tante zum Geburtstag einmal ein sehr schönes Gedicht geschickt. Jedenfalls erinnere er sich gerne an mich...
Es gibt Augenblicke, an denen steht man nahe an einem Punkt, der alle Selbstzweifel entfacht; man fragt sich, hat man alles Gefühl für Wirklichkeit bereits verloren, trügt das Erinnerungsvermögen schon so stark, daß die Einbahnstraße zum Greisendasein schon so früh eröffnet wird? Dies hätte so ein Punkt sein können, wären da nicht die Überlegenheit eigenen Empfindens für Richtigkeit, Gespür für Gewesenes und Sicherheit im Erinnern. Kurz: der feste Glaube, bislang bewußt gelebt zu haben.
Ich gebe gerne zu: ich habe diesen Brief mehrfach gelesen, den Inhalt detektivisch geprüft und nach Möglichkeiten eigenen Irrens abgesucht. Vergeblich. Ich war nämlich nie in meinem Leben an diesem besagten Ort. Freilich: ein Gedicht habe ich meiner Tante, in einem schönen Glasrahmen gefaßt, zum Geburtstag einmal geschenkt.
Mir fällt ein, daß mein jüngerer Bruder regen Kontakt mit ihr gesucht hatte. Dies schon als Kind. Dies war fast die einzige Brücke, die Vater zu seiner Familie aufrecht erhielt. Obgleich er ansonsten mit seiner Schwester, zumindest äußerlich vernehmlich, nichts im Sinn hatte. Die Ferienaufenthalte seines als jüngsten Sohn geschätzten Goldstückes waren das letzte gebliebene Bindeglied.
Es fand sich in einem meiner alten Fotoalben auch ein Bild, das den Bruder am Rande eben dieses Schwimmbeckens zeigte, etwas linkisch und verlegen, so scheint es zumindest. Würde auch gut zu ihm passen. Gewiß heute noch. Ich kannte ihn nie anders als verkrampft. Hölzern.
Das war also des Rätsels Lösung! Mein Sinn für sprachlichen Ausdruck der Gefühlswelten wurde ihm zugeschrieben. Erst einmal diesen Gedanken entwickelt, mußte ich lachen. Laut vor mich hin lachen! Ihm, der allenfalls einen Besenstiel verschlucken könnte, um dann eine tollpatschige Abhandlung über den aufrechten Gang als Ergebnis bewunderungszwingender Lebenspraxis in hölzerner Sprache zu verfassen! Irgendwie genauso lustig wie nebensächlich. Trotzdem greife ich zur Feder, das heißt natürlich in Referenz und Anpassung an modernen Fortschritt in die Tasten. Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, was der Drang nach Einheit von Wunsch und Realität für Hirngespinste hervorzubringen imstande ist...
Nein, ein Dichter im literarischen Sinn ist er wahrlich nicht, kann er wohl auch nicht sein. Er entfaltet seine Meisterlichkeit auf anderen Gebieten. Er ist der Herr über Exaktheit, könnte fast Erfinder der Genauigkeit gewesen sein. Das schließt natürlich ein Schweifenlassen der Gedanken in die unendlichen Sphären der Phantasie gänzlich aus.
Exaktheit darf jedoch nicht mit Verlässlichkeit verwechselt werden. Hier ist er eher wieder menschlicher Durchschnitt, abhängig von wankelhaftem Fundament brüchigen Seins. Verwobene Wanderungen im Seelenmorast einer endlos scheinenden, aber nie die engen Grenzen gutbürgerlicher Erziehung sprengenden Existenz, haben ihn stets streng innerhalb der Grenzen kleinlicher Gestaltungspraxis gehalten. Hier war und ist er armseliges Opfer, wie doch so die meisten Zeitgenossen. Fraglich, ob dies jemals anders gewesen ist. Wohl Menschenschicksal, traurige Fähigkeit sich der Sinnlosigkeit, dem nervenzehrenden täglichen Einerlei unterzuordnen.
Diese allzu menschliche Kleinheit, der es stets gelingt, Ketten besonders fest um die Möglichkeiten eigener Bewegungssphären zu legen... Erledigen dies nicht andere, dann tut man es eben selbst. So einfach scheint es. Man ist schnell geneigt, dies als eine unverzeihliche Schwäche zu werten. Vor allem im Umgang mit solchen Geistern wird diese Seinsform für diejenigen zur Qual, die um den Ausbruch aus diesen niederen Katakomben wenigstens ringen.
Andererseits mag er es vielleicht überhaupt nicht so erleben, sieht sich in satter Zufriedenheit, zieht innerhalb der gelegten Ketten souverän seine Kreise: Einengung als Sicherheit, als Stärke. Gleichwohl eine für mich unvorstell-bare Kastration menschlicher Möglichkeiten!
Zurück zur Meisterlichkeit. Ein Gedicht könnte er nie und nimmer schreiben, nicht zuletzt schon deshalb, weil er es nicht zu empfinden vermag. An größere, prosaische Werke ist im Zusammenhang mit ihm gar nicht zu denken. Er liest nicht einmal die anderer. Aber er ist dennoch auch ein Meister - Meister auf dem Gipfel der Pedanterie! Seine Seelen-landschaft wird von jener Erhebung überragt. Spöttisch wendet sich sein Gipfelkreuz von den niedrigen Spalten abschießender Sonderbarkeiten. So wie in den allermeisten Menschen verdrängte tiefe Klüfte sind, die sich befehende Gipfel Stein gewordener Sehnsüchte trennen. Trennen, um so Kräfte, einmal entfesselt: unzähmbar, voneinander fernzuhalten. Vom Abstieg in jene Tiefen darf er nichts wissen. Darf nicht wissen, welche Möglichkeiten erneuter Aufstieg bringen könnte. So hat er sich längst fortdauernd eingerichtet: gebettet in seine sichere Welt.
Seine eingestandenermaßen ingenieursmäßige Begnadung flößt dem Betrachter Schrecken ein, wenn das von keinerlei Selbstzweifeln geplagte hohe Lied der Technik ertönt. Da kann es schon einmal vorkommen, daß der Todesfall eines türkischen Arbeiters in einem Energieunternehmen, das deutsche Wirtschaftsgroßzügigkeit im südlichen Neandertal errichtet, als gerecht kommentiert wird. Nein, sogar Gekränktheit böllert sich hervor: wirklich, so eine schöne Technik verdienen die da unten wahrlich nicht. Arbeitertod als Verschandelung technischer Lebensästhetik. Die können einfach nicht mit unserer verfeinerten Schöpfung umgehen. Verdienen so etwas halt nicht! Sollen doch schauen, wie sie zu ihrem Strom kommen. Wie ungerecht die Entwicklungswelt mit deutscher Selbstaufopferung umzugehen wagt. Man liest, hört, erschrickt.
Dieser Ansatz von wertbezogener Betrachtungsübung kann - bei Interesse und Engagement des Zuhörers - fortgeführt werden. So bei einem Spaziergang durch schöne Voralpenlandschaft. Da stellt sich dann schon mal die Frage, ob französische Masten für Überlandleitungen schöner sind als deutsche Strommasten. Mit Sinn fürs Detail wird dann in endlos scheinendem, aber immer schaumgebremsten Redeschwall, der Sieg deutscher Gittermastenkompetenz begründet. Vogelgezwitscher, Windge-sänge, Wolkenzeichnungen können seine Erörterungen nicht stören. Er ist standhaft.
Wäre nicht diese dümmliche Einseitigkeit, könnte ich ihn leicht bewundern: er kann alles richten, was an technischer Errungenschaft seinen Geist aufgibt. Schon als Kind zerlegte er Staubsauger und ähnliche Geräte, deren Innenleben für mich stets völliges Tabu war. Und was ich sicherlich nie gekonnt hätte, er brachte es zuwege: die Dinger wurden wieder zusammengebaut und funktionierten. Bringe ihm was immer du willst, sei es ein Fernsehapparat, eine Autolichtmaschine oder irgendein Gerät, das seinen Mangel auf hinterhältigste Art und Weise tief in seine Innereien versteckt hat: er wird es richten. Du meinst es gibt eventuell keine Ersatzteile mehr dafür? Naiv anzunehmen, es könnte ihn bremsen. Er stellt dieses Ersatzteil dann einfach selbst her. Schon als Jugendlichen sah ich ihn immer als möglichen erfolgreichen und gefragten Ingenieur in einer Mangelgesellschaft, so wie uns damals der Ostblock, jenes angeblich technische Brachland, immer dargestellt worden war. Heute gilt das natürlich alles nicht mehr, man verkündet für diese ehemalige Öde baldige blühende Landschaften, paradieshafte Zustände. Auch ein Ausfluß deutscher Gestaltungsorgasmen und Selbstbetrügerei. Nüchternere Menschen mögen es auch Größenwahnsinn nennen. Brüderchen West sieht keine Grenzen mehr - dank Technik. Man darf sich ihr nur nicht entgegen stellen. Keine Ver-bocktheiten, bitte sehr! Vernunft. Dies ist dem Leser alles zu technisch, zu fern?
Wir können ihn auch in nachvollziehbarere Nähe führen. So zum gemütlichen Einkleben der Photos in das Album. Abendliche Wohnzimmerstimmung. Seine. Neonlicht. Endlose Überlegungen über Reihenfolgen. Auswählen ist praktische Ästhetik. Endlich steht das Ergebnis fest. Jetzt Klebstoff und Geodreiecke. Mittels Winkelverschiebung wird Ordnung erzwungen. Freude wird sichtbar gemacht. Wie bei den Gittermasten. Wie bei den Elektroturbinen.
Es stellen sich weitere Erinnerungen ein. Ich erinnere.
Ein großes überdimensionales Blumenfenster an seinem Haus. Eigentlich noch das Haus der Eltern: dennoch seins. Er besitzt ganz oder gar nicht. Und er besitzt gerne. Ziel-bewußt und leidenschaftlich. Die Pflanzen sind längst ent-fernt. Machten nur sinnlose Arbeit. Seine damalige Freundin sitzt vor dem Fenster, den Rücken zum Glas. Die nackten Beine gespreizt nach oben gestreckt. Schlank, erotisch. Die Verwechslung steht in sicherem Abstand dazwischen und bedient - gewissenhaft - den Staubsauger. Bedachtsame Bewe-gungen. Schließlich muß der Teppich sauber, was heißt sauber: keimfrei, werden. Die gehoben gestreckten Beine waren wenigstens nicht der Staubdüse im Weg. Keine Schwierigkeit, der Versuchung zu erliegen. Was zählt im Moment: Standhaftigkeit und Konsequenz. Und natürlich - Sauberkeit!
Man lebt gesund. Zumindest ab und an. Wir bestellen uns eine Salatplatte. Der Bruder kaut. Langsam, bedächtig, gründlich. Er erklärt: die Zellwände von Salaten müssen gründlich zermalmt werden, ansonsten die Magensäfte bei ihrer Arbeit versagen. Ich weiß nicht, ob das so ist. Mir auch egal. Ich möchte einfach essen und genießen. Ich habe schlicht Hunger und Lust zum Essen.
Wenn ich nun, geneigter Leser, schon bei der Verdauung angelangt bin, soll dem Durst der Neugierde ein weiteres Erleben von gestalteter Vielseitigkeit nicht vorenthalten werden.
Sein Haus war etwas außerhalb der üblichen, ausgewiesenen Bebauungsgebiete gelegen. Eigentlich ein sogenanntes Nachkriegshäuschen - mit steigendem Wohlstand gleich einem nimmersatten Geschwür zum Herzeigeobjekt angeschwollen -, das sich die Eltern auf einem vom Großvater geschenkten Wiesengrundstück, am Wäldchenrand gelegen, zugegebenermaßen in mühevoller, schweißtreibender, und vor allem auch zeitfressender Arbeit in den Jahren immer weiter und größer ausbauten. Die Leute sprachen irgendwann von der Villa in idyllischer Umgebung. Dort gab es viel, aber keine dem heutigen Standart entsprechende Kanalisation. Die Abflüsse wurden in eine zementierte rechteckige Auffangkammer geleitet. Diese bestand aus drei Kammern, verbunden jeweils durch ein kurzes Zementrohr im oberen Drittel. In der ersten Kammer setzten sich die Ergüsse ruhigerer und weniger behäbigerer Sitzungen vielfältigster Art zur Ruhe. War die dann voll, zog der überschäumende Rest in die nächste Kammer, von wo dann die erhaltene Leichtigkeit verdaulichen Seins in die dritte strömte. Von dort ging es über eine längere unterirdische Rohrleitung zu einem abseits gelegenen, mit Kies ausgefüllten, von runden Betonringen eingefassten Sickerschacht: dort bahnte sich der flüssige Rest, natürlich gefiltert, in der Nähe des Trinkwasser-brunnens, dem natürlichen Kreislauf ergeben, seinen Weg zurück in die Freiheiten harrender Zufälle. Für den seßhafteren Teil gab es im angemessenen Rhythmus das Odel-auto, so meine kindliche Bezeichnung für diesen Rettungs-anker bedrohter Natur, das - natürlich gegen entsprechendes Entgelt - die störrischen beziehungsweise phlegmatischen Überbleibsel nach Irgendwo entfernte.
Es war aber nicht zuletzt genau auch dieses Entgelt, das meinen findigen Bruder auf den Plan rief. Denn von klein auf war es ein Hauptziel seiner Lebensgestaltung, nur materiell ja nie zu kurz zu kommen. So sah er eine Handlungsnotwendig-keit und Betätigungsgelegenheit gleichermaßen, konnte sozu-sagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wie es so schön unschön heißt: zum einen fiel diese Bezahlung an jenen Odelfahrer weg, zum anderen ergab sich ein Betätigungsfeld für seinen Ingenieurstrieb. Findig, wie es ihm zueigen war, baute er eine stromgespeiste Pumpe, die er mit alten Gartenschläuchen koppelte. Das Ende dieser Sparleitung befestigte er auf einem erstellten, dreibeinigem Trägerge-stell, erstellt aus drei dicken Holzprügeln. Da dieses frei beweglich war, sah er die Möglichkeit, die kleine Anlage immer dann örtlich zu verändern, wenn genügend Düngung das jeweilige Zielgebiet beglückt hatte. Weil das Grundstück sehr groß war und im südwestlichen Teil einige stattliche Fichten, vom Vater in unseren Kindheitstagen gepflanzt, beherbergte, gab es für fachmännische Entsorgung keine Grenzen. Der Bruder verbrachte den ganzen Tag - die Flüssigkeiten liefen dem Querschnitt der Schlauchleitung entsprechend bedächtig und verlängerten so den Betrachtungsgenuß auf wundersame Weise - vor dem Ende seiner Anlage und bewunderte den gleichmäßigen Ausfluß, um bei eventuellen Störungen sofort eingreifen zu können. Auch bestimmte er über die Mengenzuteilung und zeigte sich so als Verwalter segensreicher, wachstumsfördernder Düngungsströme: Gestalter über Zuwendung, Regent über einen Mikrokosmos.
Zwischenzeitlich langweilte sich seine von weit her auf einen Kurzurlaub gekommene, derartigen technischen Finessen völlig abholde Freundin im Haus und war auch nicht mehr von umfangreichen, detaillgespickten Erläuterungen über die Sinnhaftigkeit von Überwachungsprozessen in technischen Abläufen zu beruhigen.
Was da ja auch hätte alles passieren können: vom Durch-brennen des hart und unaufhörlich arbeitenden Motors über das Platzen des Schlauches bis hin zu hemmungsloser Verstopfung des Gesamtsystems, von der Ungerechtigkeit bei der Zuteilung des edlen Naß gegenüber einzelnen Pflanzen ganz zu schweigen...
So ein Prozeß erfordert Ganzheitlichkeit in der Betrach-tungsweise und im Einbringen der eigenen Person. Was hätte nur alles passieren können...
Mich berührt, was immer alles nicht geschehen ist, was bei all diesen ausgewählten Vollzügen unterlassen wurde. Was letztlich den vorgegebenen Zielen geopfert wurde. Nein, nein, nein. So schreibt man keine Gedichte, so kann man keine schreiben. Nichts als eine Verwechslung!
Der letzte Weg des Generals
Wenngleich telephonisch vorab informiert durch die Schwester: an jenem kalten Freitag im Januar; wenngleich in endlosen Monologen durch die wallenden Wogen menschlicher Existenz getaucht; wenngleich in tatsächlichen und imaginären Zwiegesprächen nach dem Sinn und den Möglichkeiten, vor allem aber nach den Hindernissen, seiner Existenz gewühlt! Wenngleich.
Der treibende Schnee schien treibender, der kalte Morgen kälter, der verhangene Himmel verhangener, die Stille bannte die Sinne in graue Fluchten der Unwiderbringlichkeit. Es war der Tag an dem der schwarzumrandete Brief einbrach: als Drucksache. Der Inhalt nüchtern gedruckt, kein Schriftzug trübte ihn. "Wenn die Kraft zu Ende geht, war es kein Sterben, sondern Erlösung." So ist es also. So einfach "im 77. Lebensjahr zur großen Armee abberufen".
Das Ende des Brigadegenerals a.D.
Der Träger des Ritterkreuzes und des Bundesverdienstkreuzes hatte seinen Kampf aufgegeben.
"Wir danken ihm für seine immerwährende Fürsorge", so die Ehefrau "im Namen der Familie"...
Militärische Ehren werden ihm den Weg in seine allerletzte Ruhestätte weisen. Das Ende eines langen Weges. Es war sein Weg, eine Straße nicht ignorierter Einbahnwegweiser, Pfade ohne Innehalten und Umkehr.
Wer genau zu blicken vermag, wird dennoch aufblitzende Strahlen wärmender Sonne wahrnehmen. Vereinzelt. Sporadisch. Verschlüsselt. Allenthalben hilfloses Aufbäumen. Vereinzeltes vorsichtiges Aufbegehren gegem familiären Stacheldraht, der sich um die kärgliche Existenz legte. Letztlich obsiegte jedoch immer das Pflichtgefühl: die Familie, die Enge gewann die Oberhand. Der Stacheldraht konnte den gequälten Körper und vor allem seinen gepeinigten Geist immer enger schnüren.
Keine drei Tage bis zur Beerdigung. Dies hatte man früher so gemacht. Heute: das Zeitalter der Kühlräume und Einäscherungen. So wird auch nach dem Tod noch sorgfältig geordnet. Angeordnet. Wann der seelenlose Körper gehen darf...
Stets abgeschoben, auch diesmal. Andere bestimmen den General. Dies ist sein Schlachtfeld nicht mehr. Andere sind nun die Mächtigen.
Donnerstag , ein Tag in Sonne, von Ferne vernehme ich das Grollen der Böller; der letzte laute Gruß!
Er wird es nicht mehr hören, nicht mehr fühlen, nicht mehr einsaugen. Vor allem wird er nicht mehr leiden. Nicht mehr die Herzlosigkeit der Oberflächlichen erdulden müssen. Nicht mehr den lauten Tönen ausgesetzt sein.
Das Ende: still, einsam - trotz all der Reden, Tränen, seien sie echt oder unecht, Ehrensalven...
Trotz akrobatischer, pharisäerhafter Fotographenhektik. (Peinlich genau wird versucht, den Augenblick zu halten.)
Trotz partyhaften Leichenschmauses. (Ein Stelldichein von Fröhlichkeit.)
Ein einsames, stilles Ende. Trotzdem!
Das Herz des Brigadegenerals hatte längst schon aufgehört zu schlagen, ohne daß es seine an Äußerlichkeiten verschriebene nahe Umgebung jemals hätte merken können und wollen. Vielleicht schon in frühen Mannesjahren, als er seine natürliche Umgebung der thüringischen Wälder verlassen hatte und fortan merkwürdigen Kunstwelten ausgesetzt wurde. Einmal fort, aus tiefem, saftigen und fruchtbaren Boden entwurzelt, fand er nur mehr fremdes Erdreich, zu karg für die starken Wurzeln, zu hemmend für freies Wachsen.
Erneute Böllerschüsse dringen aus der Ferne an mein Ohr. Unter vielerlei Umständen kann das Ende tatsächlich Erlösung sein.
Weihnachten 1995
Ich habe Glück. Bereits aus weiter Ferne ist es unübersehbar. Die Scheinwerfer werfen ihre gebündelten Stahlen in den nächtlichen Himmel. Tauchen die Gebäude in die Farben meiner Erwartung.
Nach Fahrt durch regengepeitschte Nacht bin ich diesseits des Sees. Im tiefschwarzen Naß spiegeln sich vereinzelte Lichtstrahlen. Die Straße scheint geradewegs zum Füssener Schloß hinzuführen. Unter der Uhr des Glockenturms weihnachtlicher Lampenschmuck. Ich glaube, einen Engel erkennen zu können. Beinahe angekommen.
Ich erinnere: Die Fußwege zum Sportfest im städtischen Stadion. Mehr als einmal haben wir - eine kleine Gruppe an derartigen Schulveranstaltungen uninteressierter Schüler - uns auf die nahegelegenen Hügel davongestohlen, um das Ereignis der mehr als chaotisch anmutenden Schlußver-anstaltungen aus wohltuender Ferne zu beobachten. Freilich erst nach absolviertem Pflichtprogramm. Ansonsten wären wir aufgefallen, wäre unsere Abwesenheit allein schon wegen dieser dämlichen Teilnehmerlisten bemerkt worden. Danach hatte kein Mensch, zumindest von denen, die gefährlich hätten werden können, uns vermissen können - zu unbedeutend waren unsere Beiträge auf dem Gebiet der Leichtathletik gewesen. Ich gebe gerne zu, ich habe seinerzeit diesen Sport aus tiefstem Herzen verabscheut, dagegen hing meine ganze Leidenschaft an Fußball und Eishockey. Für letztere war mir keine Zeit zu schade, so wie ich im Gegensatz - aus mir unerfindlichen Gründen - nicht bereit war, freiwillig auch nur eine Sekunde auf der Aschenbahn, in der Weitwurfgrube oder bei blödsinnigen Wurfdisziplinen zu verbringen. Das Davonstehlen von dieser Veranstaltung wurde für uns irgend-wann zu einer Art Pflichtprogramm.
Wie hätte unser Fernbleiben auch nur Aufmerksamkeit erregen sollen? Das Interesse der anwesenden Lehrer galt den Bannerträgern schulischer Reputation: Aushängeschilder waren gefragt, nicht wenig öffentlichkeitswirksame körperliche Ertüchtigungsversuche mehr oder weniger sportlicher Flaschen. Das galt früher genauso wie es heute noch weithin praktiziert wird. Es gibt ihn also noch: den Stillstand.
So die spontane Erinnerung vor dem Überqueren der König Ludwig Brücke. Der Name weist mein Ziel. Über den Lech. Die letzten Kilometer. Hohenschwangau: die Königsschlösser.
Der Vorgedanke: Weihnachten als Fest der Familie. Gerne denke ich an die schneegetauchte heimatliche Landschaft der Kindheit zurück. Diese vorweihnachtliche Spannung. Diese Freude und kindliche Ungeduld beim Öffnen der ersten Türe des Adventskalenders. Das Hoffen und Ahnen: was der Gabentisch wohl dieses Jahr präsentieren würde - und immer gab es Überraschungen. Das gemütliche Zusammensitzen und Knacken von Nüssen im Schein der Adventskerzen. Irgendwie war alles einfach und hat vielleicht gerade deshalb Stimmung entfacht. Später dann im Internat unterhalb des Schlosses Neuschwanstein der gleiche erfolgreiche Versuch, weihnacht-liche Vorfreude wachsen zu lassen. Alles wurde mit Reisig geschmückt, es gab eine schöne Nikolausfeier (wenngleich das kurze Wüten der Knecht Ruprechte uns gehörigen Respekt, zuweilen auch Angst einjagte) und liebevoll gestaltete Weihnachtsaufführungen der Theatergruppe und des Schulor-chesters. Ehe wir dann in die Ferien entlassen wurden, gab es eine abendliche Schlußfeier mit Bescherung.
Auch die Geschäfte waren damals dem vorweihnachtlichen Rhythmus verpflichtet: niemals hätte es damals bereits im frühen Herbst all die Weihnachtsleckereien zu kaufen gegeben. Mutters Weihnachtsbäckerei war ausschließlich für die Weihnachtstage bestimmt; für uns Kinder gab es allenfalls Teigreste und den spärlichen Bruch zu naschen.
Es ist schön, wenn derart zufriedenstellende Erinnerung an die Kinderzeit möglich sind.
Jedoch können jene andererseits auch problematisch werden, wenn nichts von all den Weihnachtsempfindungen und vor allem keine Möglichkeit, wenigstens einen Teil davon auch heute noch auszuleben, übriggeblieben ist, wenn also dann der Kampf gegen Sentimentalitäten kräftezehrend gefochten werden muß.
Ich könnte für die Folgejahre viele völlig unterschiedliche Gestaltungsweisen, zumindest was meine Person angeht, schildern. So schön wie in der Kinderzeit war es jedoch niemals wieder. Das soll kein Beklagen über spätere Einschränkungen sein, im Gegenteil: ich weiß genau, wie wichtig und seinerzeit sowohl aufbauend als auch wohltuend die Weihnachtsfeste im Freundeskreis gewesen sind. Und vor allem, wie notwendig wir diese andere Art des Feierns empfunden haben. Einigen galt diese Abgrenzung von "bürgerlichen Formen" als geradezu revolutionäre Gestaltung.
Manche aus dem damaligen Kreis sind zurückgekehrt zu Versuchen, Weihnachten wieder ursprünglicher zu feiern, nicht zuletzt weil sie selbst Familie mit Kindern haben.
Andere wiederum haben den einmal eingeschlagenen Weg - freiwillig oder gezwungenermaßen - fortgesetzt, sich dabei einer Möglichkeit der Gefühlspflege weiter entzogen. Vielleicht trifft für so manchen zu: aus der Not wurde eine Tugend gemacht.
Ich für meinen Teil jedenfalls habe tief in mir verankert, daß es sich um ein Familienfest handelt; auch bleibt es für mich ein symbolträchtiges Ereignis, das eng verknüpft mit der Botschaft christlicher Lehre nur seine Bedeutung, und damit auch seine Festlichkeit, erhalten kann.
Ehrlicherweise muß ich zugeben: in beiden Fällen fühle ich mich als Außenstehender, also nicht zugehörig. Und das hängt eng mit der Gestaltung zurückliegender Feste zusammen. Vielleicht gerade deshalb wurde der diesbezügliche seelische Boden in den Jahren immer dünner, das Fest immer mehr zum Akt der Ausgrenzung. Ich könnte für meine Person gewiß feststellen: die Erlebensqualität wird an solchen Tagen zunehmend getrübter, was durch ehrliche Erinnerung an fröhlichere Zeiten, die in solchen Momenten zum Vergleichen drängen, sich noch verstärkt.
Es ist naheliegend, Ausweichmöglichkeiten zu suchen. Sicherlich hat das auch mit Flucht zu tun, kann dessen ungeachtet aber neue und hilfreiche Erlebnisqualität schaffen.
So Winterspaziergänge durch nächtlichen Weihnachtswald. Aber seit Jahren - so glaube ich zumindest zu erinnern - macht das Wetter durch derartige Vorhaben einen dicken Strich. Tief zu meinem Bedauern, denn das habe ich in früheren Jahren mehrfach als erhebende Abendgestaltung erlebt.
Gemeinsamer Skiausflug mit einem Freund, Weihnachts-abendessen mit anschließendem Glühwein vom Küchenherd eines alpenländischen Bauernhauses. Auch dies habe ich seinerzeit in Ischgl erlebt und genossen.
Die Möglichkeiten der früheren Feiern in Gruppen (sarkastisch könnte ich sagen: in Gruppen der Heimatlosen) sind verflogen wie die Verbindungen zu diesem Personenkreis. Als Mensch ohne Familiensinn und Glaubensbezug zum Vespermahl im Elternhaus der Freundin? Ich habe bereits die Voreinstimmung versäumt. Der Zug war längst abgefahren. Die Wahrheit ist - und da erinnere ich der Kindertage -, daß es ohne die sonntägliche Besinnlichkeit im Advent und dem damit für mich unverzichtbaren gemütlichen Zusammensein im Kreise lieber und liebgewordener Menschen keine weihnachtliche Einstimmung geben kann. Das Erscheinen zum Essen und das anschließende Zurückziehen, weil man sich als Störfaktor fühlt, verleiht mir eher das Gefühl eines zwar eingeladenen, wenngleich eingedrungenen Essers, denn das eines Mitfeiernden. Aber ich kann nun einmal nicht anders. Leider.
Die völlig geänderte Konsumwelt mit ihren Christstollen, Pfefferplätzchen, Spekulatiuspackungen, Lebkuchen und all den anderen Weihnachtswaren ab Oktober tut ihr übriges, damit auch wirklich der letzte Rest von Vorfreude getötet wird. Ich will mich nicht beklagen, der Lauf der Dinge läßt sich - zumindest im Augenblick - nicht aufhalten. Vielleicht ändern sich die Dinge, wenn einmal wieder schlechtere Zeiten anbrechen, Zeiten, die nach Einfachheit verlangen. Nein, klagen will ich beileibe nicht, nur aufzeigen, daß jedes Jahr - ob es zugegeben wird oder nicht - zumindest innerlich bei vielen Menschen (und ich zähle mich dazu) der neue Kampf zwischen der Macht der Erinnerung und der Enge gegebener Gestaltungsfähigkeit ausgefochten wird. Daß es letztlich immer wieder erneut darum geht: diese mit soviel Gemütswallungen angereicherten Tage einigermaßen unbeschadet zu überstehen.
Eigentlich wäre ich gerne irgendwo in einem winterlichen Bergwald spazieren gegangen. Die Aussichten vor Weihnachten waren verheißungsvoll gewesen; es hatte genügend geschneit. Aber wie die Jahre vorher auch kam dann ein Wärmeeinbruch und es fing an zu regnen. Unaufhörlich und immer stärker. An ein Wandern in Bergregionen mit Rucksack war nicht mehr zu denken. Der Traum einer möglichen, für mich auch sinnvollen, Gestaltung dieses Abends war geplatzt. So lag ich nachdenklich zwischen Musik, Stille und Lesestoff - dies in ungeordneter Abwechslung und Wiederholungen - bis zum Spätnachmittag im Schlafanzug und fand mich schon damit ab, auch den Rest des vierundzwanzigsten Dezembers schlicht zu vergammeln. Gedanken an Alternativen jagten sich mit Kindheitserinnerungen, zogen die Konzentration dann meist von der momentanen Beschäftigung gänzlich ab, und in der Folge einer dieser Vermengung unterschiedlichster Bilder kam der plötzliche Einfall, zur der Stätte zu fahren, wo ich sechs Jahre von Kindheit und Jugendzeit verbracht hatte. Draußen goß es in Strömen. Das sollte mich nicht stören, schon gar nicht abhalten. Den Gedanken, über die Pöllatschlucht in der Dunkelheit zum Schloß zu gehen verwarf ich, da dieses Vorhaben angesichts des schlechten Wetters nicht ganz ungefährlich gewesen wäre. Es gab für heute günstigere Wege. Sichere und breite, auf denen ich problemlos auch einen Regenschirm als Schutz verwenden konnte.
Verlassen liegt Hohenschwangau da. Alle Parkplätze sind gesperrt, bis auf den großen am See. Dorthin fahre ich. Nach acht Uhr darf dort nicht mehr geparkt werden. So steht es auf einem Schild. Derartigen Hinweisen kann ich nicht mit der Unbekümmertheit und Gleichgültigkeit entgegentreten, wie ich sie bei anderen zumeist bewundere. Im Geiste sehe ich schon Strafzettel, Abschleppwagen und Ärger vor mir: mögliche Trübung vorangegangener Freuden. Aber so leer wie der Ort heute sich gibt, kann auch für mich keine Gefahr drohen. Und immerhin für den Fall der Fälle: es ist Weihnacht. Wer sollte da schon seinen Sinn für Ordnungsmaßnahmen entfalten?
Keine Menschenseele weit und breit. Ein echtes Weihnachtsgeschenk. Wann hat man das alles schon für sich ganz alleine? Keine Touristen, zumindest nicht auf den Wegen. Wie in den jugendlichen Wintertagen, als der Ort uns Schülern fast ganz allein gehörte. Jetzt wieder dieses beglückende Gefühl. Dem Parkplatz gegenüber das Hotel Alpenrose. Einfache Weihnachtsdekoration leuchtet durch die großen Bogenfenster der Eingangshalle. Längst ist dieses Kleinod am See renoviert worden. Jahrzehntelang stand es unbenutzt und dem Verfall überlassen. Wir haben als Kinder in diesem Haus nachmittags gespielt. Dort war unser Club der toten Dichter... Durch eine von uns geöffnete Hintertüre sind wir immer in unser damaliges sehr sicheres Refugium eingestiegen. Damals ein echtes Abenteuer.
Der Regen prasselt auf Schirm und Jacke. Im fahlen Schein der Lampen zeichnen sich Regenwände ab. Die Luft ist frisch, riecht nach Auferstehung und hält die Sinne wach. Ich wähle den Weg, auf dem sich in den Sommermonaten Menschenschlangen zum Schloß Neuschwanstein hinaufschieben, auf dem auch die bekannten Pferdekutschen fahren. Niemand ist zu sehen. Ich gehe zügigen Schrittes. Mein Körper verlangt nach Bewegung. Auf dem Weg sehe ich, daß die Gemeinde einige Sommerabstiege vom Schloß wegen zu großer Gefährdungsmöglichkeit mit einfachen Lattenverschlägen gesperrt hat. Wir sind da früher immer - verbotenerweise - mit den Schlitten hinuntergeschossen. Unbedarftheit des jugendlichen Übermuts. Natürlich ist die Schloßgaststätte geschlossen. Ein Auto steht davor. Drinnen brennt Licht. Jetzt wo keine Terrasse aufgebaut ist, wirkt der Bau nicht so eklig gigantomanisch wie zu Zeiten, an denen Touristen ihn noch mit ihren Leibesfüllen noch zusätzlich zu vergrößern scheinen. Freilich, noch erträglicher war das alte Gebäude, in dessen Hinterzimmer wir Schüler - geschützt vor uns nachstellenden Lehrern - ungestört unser Bier trinken konnten, lange Zeit vor Umbau und Anbau. Ich lasse die Gastwirtschaft links liegen und gehe den Bogen entlang die restlichen Meter zum Schloß hinauf. Natürlich ist die Eingangstüre zu. Oberhalb brennt in einigen kleinen Zimmern Licht. Warmes Licht als willkommener Gegensatz zu dem kalten Licht der Riesenstrahler, die das Märchenschloß in Licht tauchen. Es riecht nach Holzfeuer. Aus Erzählungen weiß ich, daß eine Schloßführerin ständig dort wohnt. Meine Traumtänzereien werden wohl erst mit mir ein Ende finden. Deshalb stelle ich mir vor: eine überraschende Einladung zum Mitfeiern. Ich male mir das alles märchenhaft, der Umgebung entsprechend, aus. Natürlich bleiben Fenster und Tor verschlossen. Ich hatte es zu keiner Sekunde meiner Träumerei anders erwartet. Wunder geschehen keine mehr. Auch ist es besser, wenn Träume dort belassen werden, wo sie hingehören: jedenfalls nicht in das Reich der Realität. Mir fällt der Spruch ein: Wen Gott strafen will, dem erfüllt er seine Träume. Gar nicht so abwegig, finde ich, und könnte einen Teil der Summe meiner Erfahrungen aus eigenem Leben als Beleg für die Richtigkeit der Aussage beisteuern. Weihnachten soll jedoch anderen Gedanken gehören. Auch mein Weihnachten! Ich gehe um das Schloß herum in Richtung Jugend. Nein: keine Reise in die Vergangenheit, sondern dies ist der Name für ein nahege-legenes Aussichtsfleckchen. Wo es sonst drängelt und lärmt, ist jetzt nichts Störendes. Ich nehme mir viel Zeit. Bleibe laufend stehen und sauge den Anblick des Schlosses unaus-löschlich ein. Wie oft bin ich hier schon gegangen, wie oft habe ich hier schon tief eingeatmet. So schön wie heute war es noch nie. Denke ich im Augenblick zumindest. Wollte ich auf den zum Alpsee und Schwansee gerichteten Balkonen stehen? Jetzt? Irgendwann? Wäre es schön, König zu sein? Seinen Träumen verfallen, entrückt kriegslüsterner Begierde all der allzu irdischen Vasallen? Wie würde die kleine Seele empfinden, innerhalb der Riesigkeit des Gebäudelabyrinths?
Die Jugend: unter mir liegt Schloß Hohenschwangau im warmen ockergelben Ton. Hier werde ich lange bleiben. Die Seen verschwinden fast ganz in der Nacht. Vom Alpsee steigt ein Wolkenband hoch und legt sich behutsam über das angestrahlte Schloß. Verharrt wie ein Traumschleier. Kein Künstler könnte besser und schöner gestalten, was Natur soeben gezeichnet hat. Solche Augenblicke festhalten können! Doch wo bliebe dann die Faszination? Einmaligkeiten entfalten sich doch nur durch ihre Einmaligkeit. Ich fühle mich mit Weihnachtsge-schenken reich gesegnet. Trübe Gedanken gehören in solch erhebenden Augenblicken weit entfernten Vergangenheiten an. Scheinen jenseits jeglicher weiteren Einflußsphäre zu sein. Doch Verstand und Erinnerung belehren mich mit warnender Stimme eines Besseren. Gleichwohl: sie mögen ja recht haben, jetzt im Augenblick gelten andere Qualitäten. Die Welt ist jetzt im Lot. Ein Narr, wer mit störendem Zweifel daran rütteln wollte! Lange stehe ich und schaue. Wer weiß, wann dies alles wieder einmal möglich sein wird? Wer vermag zu sagen, daß zumindest Ähnliches mit Sicherheit wiederholbar ist?
Meine Jacke ist mittlerweile durchnäßt. Es wird langsam kalt. Zeit, diesen Ort kurzen Glücks zu verlassen. Vorsichtig setze ich auf einer steileren Abkürzung meine Schritte zwischen Reste von Eisplatten. Die Zeit hier war Weihnachten. Hunderte von Christbäumen, Tausende von Lichtern, ungezählte Wasser und eherne Stimmen friedvoller Natur. Irgendwann komme ich wieder am Parkplatz an, steige naß und irgendwie unbeschreibbar zufrieden in mein Auto. Fahre los, an meiner alten (wegen Neubauten kaum wiedererkennbaren) Schule vorbei auf der Straße nach Steingaden bis zum Kirchlein Sankt Coloman. Davor ist ein kleiner Parkplatz. Ich stelle mich so, daß die beiden Schlösser nochmals zu sehen sind. Abschiednehmen als Ausklang. Eine mitgebrachte Packung Datteln futtere ich genüßlich, vor mir meine Riesenweihnachtskulisse. Die Feuchtigkeit im Auto legt langsam aber stetig Nebelschleier auf die Scheiben, die beiden Gebäude verschwinden immer mehr durch den Dunst der Nähe.
Es ist wie in einem schönen Film, wenn der Vorhang zugezogen wird und man bleibt dennoch eine Weile weiter sitzen und applaudiert nur mehr den Schatten, lange nachdem alle Akteure längst das Geschehen verlassen haben.
Wider seine Ehre
Da blieb er stur. Wollte nichts von Ausnahmen wissen. Wischte den beschwichtigenden Einwand, es handele sich um sporadische Entgleisungen einiger Weniger inmitten ansonsten aufrichtiger, verantwortungsbewußter, von großem Pflichtgefühl getragener Staatsbürger barsch, heftig und mit dem Gesichtsausdruck des Wissenden zurück. Du kannst mich nennen, was immer du willst, wonach immer dir auch der Sinn stehen möge: es wird mich kaum beleidigen können.
Kein Vergleich aus der Tierwelt vermag mich zu kratzen! pflegte er stets zu sagen. Auch keine noch so vulgäre Erfindung aus dem Reich der einfachen Geister. Auch nicht akademisch gekonnt erdachte Entgleisungen.
"Aber nennt mich nicht noch einmal Politiker", herrschte er uns ohne Verheißung irgendwelcher Gnade an. "Das Wort Politiker auf meine Person gewendet wird Unbarmherzigkeit entfachen! Also, meine Freunde, nicht solche Töne..." Er grinste beinahe entschlossen wie der selige John Wayne vor seinen wüstesten Schlägereien, wenn es galt in perfektioniertem Schwarzweiß Klischee dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen.
Keine Verbindung zu abgrundtiefer Dummheit und genauso endlosen wie schamlosen Lügenorgien! Diese modernen Raubritter wider jeglichen menschlichen Anstand...
Der Belege gäbe es viele; er wäre allenfalls bereit, seine wertvolle Zeit für das Darlegen einiger weniger zu opfern. Mehr könne man von ihm wahrlich nicht verlangen.
Da würden blühende Gärten angekündigt, bezahlbar angeblich aus der Portokasse und keinem würde es schlechter gehen, allen nur besser. Schamlos wurde diese Behauptung noch in den letzten Winkel der Republik gefurzt und was war, nachdem dieses Geschwür von Schwachsinn allzu virulent geworden war? Nichts als ein treudoofer Blick aus feistem Blubbergesicht und die Feststellung, daß das ganze Ausmaß des wirtschaftlichen Desasters der DDR nicht bekannt gewesen wäre...
Da hatte man seit 1946 nichts anderes getan als über Rückständigkeit, mangelnde Produktivität, Abwesenheit von Anreizen und Fleiß und andere tatsächliche oder erfundene Unzulänglichkeiten in jenem anderen Teil Deutschlands gewettert, hatte alles erdenklich Dämliche dazugetan, daß diesem "Gebilde", wie sie es zu nennen pflegten, jegliche Chancen auf dem Weltmarkt vorenthalten wurden und es keine Sekunde versäumt, die sogenannten Errungenschaften und Überlegenheit der kapitalistischen Welt in allen Belangen zu betonen - und jetzt ein schlichtes "Das habe man alles nicht gewußt".
Wohlgemerkt: keine Gelegenheit wurde jemals ausgelassen, jedes noch so winzige Ergebnis sozialistischer Produk-tionsweise auf jede erdenkliche Art zu diffamieren, kleinzureden, in seinen negativsten Auswirkungen zu zeichnen, und dann - das habe man alles nicht gewußt, nicht ahnen können.
Allen voran dieser Doktor der Geschichtswissenschaft, dessen Lebenselixier der Gedanke an den Einzug in die Geschichtsbücher grundlegen sollte. Er habe nicht gewußt, nicht ahnen können... Und die ganze kläffende Meute hinter ihm: man habe nicht gewußt. Wie auch dem seligen Ende des Dritten Reiches, dieser Erfindung der Tausendjährigkeit, die dumpfe Masse tönte: das alles habe man nicht gewußt. Nicht gewußt. Pfui Teufel! Zum Ausspucken.
Nicht zu wissen in diesem Ausmaß ist jedenfalls Ausdruck von Untauglichkeit zur Ausfüllung verantwortungsbeladener Positionen. Da ist es dann schon unwichtig, ob dieses Nichtwissen lediglich Tarnung einer bösartigen Lügen-schwadron, Dummheit oder Informationsabstinenz ist. Nein, allein dieses Beispiel reiche aus und könne von den wenigen Aufrechten aus all jenen Tagen niemals aufgewogen werden. Politiker sei das übelste Schimpfwort, das vorstellbar.
Oder die Telefonschurken: zuerst zerschlagen sie ein staatliches Unternehmen, um es dem nimmersatten Moloch der Geldgier ausliefern zu können. Ausschließlich am Profit orientiert, zerschlagen sie jeden, der sich ihnen in den Weg stellt.
Wenn dann genau jenes Unternehmen Telekom das macht, wozu es gegründet wurde - nämlich sich kapitalistisch marktkonform und gewinnorientiert verhält -, fließen die Krokodilstränen und gröhlt das Pharisäerpack der eigentlich dafür Verantwortlichen das hohe Lied der sozialen Verpflichtung.
Politiker! Dummheit? Dreistigkeit? In einen Topf gehörten sie, zugeschissen, meint er. Den großen Überarsch anfordern, der all jene Ärsche gründlichst zuzuscheißen vermag.
Daß diese Gipfel an Frechheiten auch bei offensichtlich weit unterdurchschnittlichen Geistesvermögen hochwabern (aus dem Sumpf der Ekelheimat), zeige stellvertretend die Bemerkung eines im Aufsichtsorgan des Postwesens sitzenden Politikers, wonach er die neue Gebührenstruktur nicht durchgelesen hätte, da sie ihm zu kompliziert wäre. Das muß man sich einmal auf der geistigen Zunge zergehen lassen! So dumm und so dreist, daß dieser Herr, diese Ausgeburt an Widerlichkeit, nicht einmal merkt, was er über sich selbst da preisgibt: Verletzung der Pflicht, geistige Unfähigkeit, einfachere Information aufzunehmen. Deutlicher Hinweis, für durchschnittliche Aufgaben schlicht ungeeignet zu sein. Wäre er charakterfest und konsequent: Rücktritt müßte der sofort vollziehen. Nein, so dumm scheint jener, daß er meint (und hofft), dem Volke das Wort zu reden.
Bleibt die Frage: merkt die Masse, was hier geschieht? Will sie es nicht merken, kann sie es nicht oder findet sie sich gar im Einklang mit jenen Epigonen neofeudaler Züge in ihren Bürgergewändern? Aber dies sei ein anderes Thema.
Und für diese Minderleistungen auch noch fürstlich abkassieren. Der Dummheit gebührt allenfalls Lohn für geleistete Dummheit, sagt er. Und wenn Dummheit in Bonn oder sonstwo gar noch Überstunden macht, dann dürfe man dies keinesfalls lohnen. Es gehöre - ganz im Gegenteil - heftig bestraft. Raubrittertum!
Er sprach noch von bezahlten Rhetorikschulungen, in denen diesen Ärschen beigebracht würde, wie man Kreide frißt, um anschließend das träge Volk einzulullen. Von beobachtbaren Trunkenheitspupillen und Nervositätserscheinungen bei diesem Personenkreis als Zeichen verselbständigter Reste von Ehrlichkeit.
Also, bitteschön, nicht mit ihm! Politiker? Pfui Teufel! Nur seinen ärgsten Feind vermag er zu nennen, was er tatsächlich ist: Politiker.
Zeitwende
Einmal völlig anders erleben. Auch durch die Organisationsmaschen geschickt jonglierender Veranstalter schlüpfen, die glauben machen wollen (und vielfach es auch erfolgreich können!), es gäbe ein Entrinnen.
Wenn überhaupt ein Begriff die Losung des Abends und der Nacht kennzeichnen soll, was allenfalls aus Gründen der Kommunikation erforderlich ist, dann dieser: Selbstor-ganisation.
Einfach das tun, wonach es einen zieht. Weg von dieser organisierten Fröhlichkeit und ihren Heiterkeitsausbrüchen. Fort mit diesem Gelage, dieser Völlerei und Sauferei, die immer dann legitim zu werden droht, wenn der Deutsche (andere Nationen sollen mich in diesem Zusammenhang jetzt nicht interessieren) feierlich zu werden gedenkt. Immer wird gefressen und gesoffen: bei Geburten, Geburtstagen, Ehe-schließung, Scheidung, Kommunion und Firmung sowie Konfirma-tion (kirchliche Ereignisse verlangen allein schon wegen der Magenfülle der meisten geistlichen Würdenträger nach hemmungsloser Nachahmung irdischen Übermaßes...), Beförderung, Einstellung (wohl heimlich auch bei Entlassung) und Tod. Völlerei als Zeichen. Das Wabern der Bäuche als Zeugnis für materialisiertes Gefühlsleben. Ausgelassenheit bis in die innersten Eingeweide.
Unsozial, wer sich zu entziehen wagt. Ungesellig, wer die Sauferei am Arbeitsplatz zu allen mehr oder weniger wichti-gen Anlässen ablehnt. Unsportlich, wer die Nachwehen scheinbar existentiell wichtiger Auseinandersetzung (sei es auf der unmittelbaren Ebene des heimatlichen Sportvereinslebens, seien es internationale Hahnenkämpfe) alkohollos und nüchtern an sich vorbeiziehen läßt. Oder wer läßt sich schon gerne einen Faschingsmuffel schelten? Oder noch schlimmer: wer wacht am anderen Morgen nach all den sozialen Bindungsorgien ohne Kater auf, und gibt das auch noch bereitwillig und mit Stolz zu?
Nur Ausgestoßene können derartigen Vorwürfen Genuß abgewinnen. Nur Gesellschaftsfeinde wagen es, sich beizeiten zurückzuziehen.
Wir geben es dennoch gerne zu und setzen uns freudenvoll den Anfeindungen aus: der Gedanke, in diesem Sinne ein Gesellschaftsmuffel zu sein, befriedigt uns zutiefst.
Wir freuen uns, wenn es Grund hierzu gibt - aber bitte ohne Alkohol. Natürlich sind wir einem Gläschen nicht immer abgeneigt; dann aber bitte zuerst die Freude spüren und dann anschließend eventuell ein klein wenig davon. Wirklich erst danach, wenn überhaupt!
Auch müssen wir die dumme Angewohnheit bekennen: anstatt wie all die Festtagslakeien essen wir immer dann mit Freude und Genuß, wenn wir schlicht Hunger haben. In Maßen. Hier bleiben wir gerne konservativ, in einem ursprünglichen Sinn: wir bewahren ein Tagesziel unserer Steinzeitvorfahren.
Wir erinnern uns mit Ekel an alte Lateinstunden, die uns über römische Eßunsitten berichteten: zuerst fressen, daß die Wampen sich wölben, dann mit Federkielen den Gaumen reizen, um nach dem Räumen der vollgepferchten Warenlager wieder für Nachschub sorgen zu können.
Fürs Leben haben wir daraus gelernt. Wir haben unsere sogenannte Ekellinie gezogen. Jenseits davon, für uns ein Bereich selbstgewählter Abstinenz, die Heimat der Freßbolde (und natürlich der Saufbolde). Alkohol zuweilen als Federkielersatz!
Keine Sorge, auch wenn wir uns des männlichen Ausdrucks bemächtigen (eigentlich nur, weil wir keine Anhänger der großen "I"-Bewegung sind, sie wissen schon: KollegInnen...): selbstredend haben wir nicht all jene runden, schwerfälligen Dampfwalzen oder ordinären, dämlich kichernden Partylöwinnen vergessen, deren kurzer Anblick uns bereits jede Lust auf das andere Geschlecht zu vermiesen weiß!
Also zusammenfassend: wir saufen und fressen ganz bewußt nicht! Entsprechend meiden wir auch sogenannte Festlichkei-ten, wenn nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann, daß jene nicht in Stöhnen und Rülpsen enden. Feine, besonders zur Abgrenzung meist selbstgeschaffene Unterscheidungen und Spielarten - Erscheinungsformen des jeweils an den Tag gelegten Stils - können nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade auch die Auswüchse bei einschlägigen Anlässen der sogenannten besseren Gesellschaft bestenfalls einen Hauch von Peinlichkeit bescheren.
Wir nehmen uns auch nichts mehr vor. Wir haben gelernt, daß all die guten Vorsätze schneller vergessen als gedacht sind und ziehen daraus Konsequenzen. Wir hören auf das Pochen des Augenblickes. Auf die Rufe der Möglichkeiten. Wir wollen uns konzentrieren auf Machbares, nicht durch undefinierbares Gebrüll beeinträchtigen lassen.
Wir verzichten auf momentane Zuneigung, dargeboten aus wässrig gläsernen Augen, schwimmend auf gegenwärtigen Alkoholwogen im Gefühl der Leichtigkeit des Seins. Wir ver-zichten darauf, nach vermeintlicher Sicherheit und Zugehörigkeit zu haschen. Wir bleiben bewußt, was wir alle vor allem in solchen Situationen eigentlich besonders sind: allein.
Wir können eine Pizza essen, ausschließlich mit dem Gefühl, daß hier nur gegessen wird: gekaut, genossen, verdaut. Nicht weniger, aber auch nicht mehr! Wir wollen uns nicht ein-reden, daß es bereits bereichender sozialer Akt ist, wenn jemand mitkaut, mitverdaut. Gemeinsames Kauen als gemeinsame Sprachlosigkeit. Gemeinsames Trinken als Zeichen der Abwesenheit anderer Gemeinsamkeiten.
Wir werden heute dennoch feiern: wir gehen hoch auf einen Berg, auf sicherem Weg (die Vorsicht wird uns auch hier leiten, wir wollen schließlich nichts beweisen, sondern uns nur ergötzen), packen uns warm ein und werden dann oben sitzen. Sitzen und warten. Und um Mitternacht sehen wir dann die ganze Sinnlosigkeit deutscher Ausgelassenheit, wenn für Millionen von Mark Lichter in die Luft gejagt werden. Wenn sich Fröhlichkeit durch Krach bemerkbar macht. Wenn danach alles genauso schnell, wie es gekommen ist - spukgleich - wieder verschwunden sein wird. Zurückbleiben wird das Dunkel, das bereits vorher gewaltet hat. Das Leben wird weiter seinen undurchdringlichen und unerfindlichen Gang gehen - ungebremst von Vorsätzen und Versprechungen. Jahrein, jahraus. Was soll angesichts dieser Dimensionen schon das Aufgeputztsein einer Nacht?
Wir werden das alles aus der sicheren Distanz der Höhe erleben; auch wir werden Lichter leuchten haben: Tausende von Sterne am Himmelszelt, umsonst. Und selbst wenn Wolken sie heute verdecken sollten: wir wissen, sie sind da, irgendwo, scheinen für jeden, der sie zu sehen vermag. Leuchten ohne Alkohol. Verlangen nicht nach kalten Büffets. Scheinen jenseits von Anfang und Ende. So werde ich zur Zeitwende sitzen, schauen, in meinen Gedanken versunken, und mich für Augenblicke in angemessenem Maßstab erleben können. Zeitwende als winziger Punkt auf einer unermeßlich endlosen Geraden, die irgendwo durch einen Anfang und irgendwo durch ein Ende streift...
ZUMMWEG
Wir sind verliebt. So richtig bis über beide Ohren. Weil es nicht so ein ganz neues Gefühl ist - schamhaft deuten wir hiermit ein schon fortgeschrittenes Alter an -, wundern wir uns. Nicht über das Gefühl als solches. Nein. Über Zummweg. So heißt sie, dieser neue Stern auf allzu endlichen Traumbahnen dunkler Schatten. Zummweg. Der Vornahme bleibe unerwähnt. Weil ohne Bedeutung für das Wundern. Weil austauschbar. Zummweg ist Frau. Ganz Frau. Was das heißt, brauche ich nicht zu erklären. Der Leser wird sich hier ohnehin seine eigenen Vorstellungen machen. An ihnen unbelehrbar festhalten wollen. So lassen wir alles beiseite, was die Würze in diesen immer wieder als neu erlebten Zuständen ausmacht. Bleiben wir bei dem vordergründig Faßbaren. Wie Zummweg spricht. Der Fortsatz ihrer Gedanken. Die Festigkeit ihrer Ansichten. Wundern wir uns. Nicht darüber, was sie sagt. Wir haben bekanntlicherweise in diesem manchmal ewig dünkendem Auf und Ab der Lebensstraßen vielerlei Kurioses erlebt. Dinge, die anzogen, andere, die wiederum abstießen. Zummweg als Anlaß des Wunderns. Über sie. Vor allem aber über uns. Wir, dieses zweibeinige Lebewesen mit aufgesogener Vielfalt. Wie ein Schwamm durch das Naß sind wir geschwollen - sozusagen ein aufsaugendes Monster. Kurz vor Weihnachten kreuzte sie den Weg. Als schon die letzten bunten Blätter sich endgültig verabschiedet hatten - sei es als letztes Aufbäumen von Winden fortgetragen, sei es tänzelnd schwebend zu Boden gefallen und leicht das letzte Grün winternder Wiesen bedeckend oder gar vorschnell in den Morast gestürzt und somit vorzeitigem Modern preisgegeben. Kurzum: zu einer Zeit, in der die innere Seelenlandschaft mit den äußeren Veränderungen um steten Gleichschritt rang. Winter der Gedanken. Da kam Zummweg wie ein Frühlingswind einher.
Gedanken um Weihnachtsfeiern. Nie sahen wir auch nur einen Grund nach Veränderung zu fragen. Bis Zummweg Wege wies. Man müsse unbedingt die Bescherung vor dem abendlichen Festessen erleben. Die Geschenke also vorher auspacken. So gäbe es dann wenigstens ein vernünftiges Gespräch beim Abendessen. Die Geschenke als Sinn - für Fest und Unterhaltung. Frisch verliebt erschrickt man nicht. Der Gedanke an eine besonders gekonnte Art von ironischem Humor drängt sich auf. Bleiben Ironie und Humor aus, bleibt der Ernst zurück - ist es schon zu spät. Nur noch Zeit, zu wundern. Vor allem: warum man dies früher sich niemals hätte bieten lassen? Und jetzt schon? Was immer noch vor einem liegt, also schlicht ungelöst bleibt, ist die Hartnäckigkeit, mit der diese Idee in Richtung Umsetzung getrieben wird. Frisch verliebt fehlt die Kraft und vor allem auch der Wille: sich zu wehren. Also packt man vorher aus und findet sich mit halbvollem Mund im Gespräch wieder. Themen und Essen kauen. Im Rhythmus der Freude und Dankbarkeit.
Zummweg ist nicht mehr die Jüngste. Sie spricht viel von ihrer Kindheit, vor allem vom Vater. Die Mutter lehnt sie immer noch ab. Zu langweilig, zu spießig. Kein Profil. Sie lebte und lebe jeden Tag wie den anderen. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Wo sich die gesamte Familie zusammenfindet. Immer noch. Tradition! meint sei trocken, aber auch mit einem Unterton, der anzeigt, daß sie niemals diese Unternehmungen missen möchte. Vor allem die vielen Einkaufserlebnisse in schwäbischen Konsumtempeln. Besonders toll seien Neueröffnungen. Da müsse man einfach immer hin. Nur beim Wühlen und Schauen fühle sie sich der Mutter nah. Keine Zeit werde ihr dann zu lange, keine Sprachlosigkeit angesichts der vielen Lockungen. Sie könne immerzu kaufen.
Als Zummweg einmal wieder ihre Einheit von Kaufrausch und Lebensmittelpunkt demonstrierte, schaute sie vorwurfsvoll auf meinen billigen Tisch. Billige Massenware, ohne jeglichen Stil! klagte sie vorwurfsvoll und erinnerte an ihren früheren Mann - Mediziner mit Niveau! Wie sie sich ausdrückte. Ja, sie konnte wie ein Elephant im Porzellanladen sein. Auf meinen Gefühlen trampeln. Sie merkte es nicht. Schlimmer: ich ließ sie klaglos gewähren. Sie schaute also auf diesen unsäglichen Tisch in meiner Billigwohnung (ihre Kennzeichnung!) und erinnerte an den Vorfrühling ihrer Ehe: einen Eßtisch für sechstausend Mark hätten sie seinerzeit erworben. Ich wußte gar nicht, daß es derart teuere Tische zu kaufen gibt. Schon gar nicht kannte ich Leute, die für so etwas überflüssig viel Geld auf die sicherlich billigeren Kassentische legen würden. Doch jetzt kannte ich so jemanden: Zummweg.
Wie gesagt, sie sprach viel von ihrem Vater. Ein ehemaliger Schullehrer auf einer Dorfschule. Für nicht Betroffene gewiß ein interessanter Herr. Zumindest nach ihren Erzählungen zu urteilen. In jüngeren Jahren wurde er einmal strafversetzt. Hatte der Obrigkeit nicht genügend gehorcht. Tauchte weder am neuen Schulort auf, noch blieb er am alten. Trieb sich irgendwo herum. An der neuen Schule meinten sie, er wäre an der alten. An der alten waren sie froh, ihn zumindest für eine gewiße Zeit losgeworden zu sein. Bis die Schulaufsicht ihn vermißte. Als er nach drei Wochen plötzlich aus dem Nichts auftauchte, war ihm keine Antwort auf einschlägige Fragen zu entlocken. Er berief sich auf Erinnerungslücken. Altes Kriegsleiden, meinte er nur. Es geschah nichts, außer daß die Strafabordnung unverzüglich rückgängig gemacht wurde. Zeitweise hatte er in seinem Klassenzimmer ein richtiges Himmelbett. So mit echtem Baldachin. Für seine Ruhepausen. Klingt unglaublich. Warum sollte Zummweg lügen? Trotzdem: ich habe nachgefragt. Es wurde bestätigt. Er hatte schon ein Übermaß an Sinn für Humor (bösartigerweise könnte man aber auch fehlenden Sinn für Wirklichkeit unterlegen): Als er vor zwei Jahrzehnten mehrere Makler zum Schulgebäude bestellte, jene herumführte und die Vorzüge von Lage und Räumlichkeiten pries, sich als Verkäufer jener Liegenschaft ausgab - das war schon etwas im täglichen Allerlei dörflicher Langeweile. Erst ein völlig aufgelöster, weil von örtlichem Informationsfluß etwas zu spät alarmierter Bürgermeister konnte den Kaufhoffnungen der damals wie heute in jeglicher Idylle jagenden Meute Einhalt gebieten. Ja der alte Zummweg (nennen wir ihn einfachheitshalber auch so) schlug schon so manche Bresche in den bislang ungetrübten Erwartungshorizont so mancher Stellvertreter...
So wundert es einerseits nicht, daß er in die Nähe der Macht, also der Überwachung versetzt wurde, andererseits dauerte es doch geraume Zeit, bis es soweit war, denn wer hat schon gerne Unorthodoxie nahe seinem eigenen Pelz? Auch damals war es üblich, daß alle vier Jahre eine Visitation, also ein Schulbesuch, durch kontrollierende Schulräte stattfand. Die rückständigen unter jenen, nutzten diese Sternstunden, in denen sie ihrem Büromief entsteigen konnten, um besserwisserisch zu belehren und anzuklagen, wohingegen die fortschrittlicheren zu Beratung und Verständnis fanden. Wer auch immer dem alten Zummweg in die Quere kam: Gespräche verweigerte er, weil der eine seine Stunden bekanntlich ja gesehen und schon eine ihm genehme Meinung gebildet hätte, er aber seinerseits die Stunden gehalten und auch eine Meinung - nämlich die für ihn einzig wichtige: seine eigene - gefunden hätte. Mit diesem klaren Hinweis ließ er die Aufsichtspersonen dann allein im Regen stehen. Er brachte es auch fertig, bei derartigen Besuchen kurz den Unterricht zu verlassen, auf dem Gang eine Zigarette zu rauchen (wie er überhaupt zu allen Zeiten sehr lustbetont zu leben verstanden hatte) und auf diesbezügliche Fragen dem einen oder anderen Kollegen mitteilte, der Schulrat würde schon noch im Klassenzimmer sitzen und seine Schüler beaufsichtigen.
Zummweg erzählt dies alles immer wieder. Und ich weiß mittlerweile, daß jedes Wort davon wahr ist. Auch wenn es der ungläubige Zeitgenosse nicht wahrhaben will. Vielleicht weil er selbst allzu fern von solchen Herausforderungen sein Leben sorgsam eingerichtet hat...
Zummwegs früherer Mann war zumindest was Lustbetonung angeht ihrem Vater nicht unähnlich. Er verlangte häufig, daß sie dünne schwarze Spitzenunterwäsche anzog, äußerst kurze RÖcke darüber streifte, so daß die Strapse noch neckisch - wie sie es nannte -darunter hervorlugten. Dies machte ihren Ex dann so rasend, daß es eine wahre Freude machte. Das gefiel ihr. Ebenso aber auch die Wäsche an sich. Ein Stück Ästhetik. Hautphilosophie. Sie konnte wahre Abhandlungen über diese Verbindung von Mode und Aussehen, sprich: Wirkung auf das andere Geschlecht, vom Stapel lassen. Wie gesagt, wenn man verliebt ist, erscheint einem viel erträglich, was unter anderen Umständen das Fürchten lehren würde...
Die größten Probleme waren Urlaubsreisen gewesen. Wenn es überhaupt so weit kam. Meistens scheiterte das Vorhaben an der nicht vorhandenen Ausstattung. Schließlich müsse man ja gerade bei solchen Anlässen stets auf dem neuesten Stand sein. Berstende Kleiderschränke - und nichts anzuziehen. Hatte man es dann doch geschafft, mit mehreren Koffern bewehrt das Haus zu verlassen, sich für zwei bis vier Wochen Urlaubsziele gesetzt, dann geschah es nicht selten, daß bei aufkommender zweifelhafter Witterung das ganze Vorhaben abgeblasen und der Heimweg wieder angetreten wurde. Scheidung hatte sie sich nie vorstellen können. Und dann kam sie dennoch - oder gerade deshalb. Sie war anfangs verzweifelt, leer, ausgepumpt. Ihre Welt war zusammengebrochen. Erdbebendesaster. Sie wollte anfänglich nicht mehr. Was sie genau nicht mehr wollte, ist ihr heute entfallen. Die Zeit heilt. Auch wenn es in der Unmittelbarkeit nicht so scheinen mag.
Zummweg erinnert sich: eine Freundin suchte sie auf, nachdem wochenlang keine Signale mehr gesendet worden waren. Dies bei ihrer Lust zur Dauertelefoniererei. Die Freundin kam also: der Briefkasten quoll über voll wichtiger und weniger wichtiger Post, in der Küche stapelte sich das Geschirr, am Fußboden sammelten sich dichte Staubwolken, wie überhaupt die gesamte Wohnung unaufgeräumt und unsauber wirkte. Jedenfalls hatte besagt Freundin derartige Zustände noch niemals zuvor erlebt. Sie schritt zur Tat: sortierte Post, half bei der Beantwortung (vor allem waren Behördentermine einzuhalten), putzte und räumte auf. Und kümmerte sich vor allem um Zummweg. Sie war einfach zu apathisch, als daß sie sich selbst zu jener Zeit hätte helfen können. Es wurde auch nur langsam besser. Aber es gelang. Dank der aufmerksamen und einfühlsamen Hilfe dieser Freundin und einiger weiterer Personen aus Zummwegs Vergangenheit. Ihr Mann hatte zwar vereinzelt versucht, wieder Kontakte herzustellen, aber selbst in ihrem größten Elend konnte sie diesen unerbetenen Zudringlichkeiten widerstehen.
Zummweg kennt das Leben. Das Leben kennt Zummweg. Das Leben als Anhäufung von Zummwegen. Eine regelrechte Zummwegerei. Aber frisch verliebt wird viel übersehen. Es werden also Geschenke nun vor dem Essen ausgepackt, es werden Gespräche über bislang nie gekannte Urlaubsproblematiken geführt, die Notwendigkeit von Spitzenunterwäsche für menschliche Daseinsgestaltung gerät ins Zentrum wesentlicher Überlegungen und für die humorvolle Seite der Alltagsauflockerung halten verstaubte Geschichten aus der väterlichen Kuriositätensammlung her. Und sollte es tatsächlich im täglichen Einerlei mit Zummweg einmal langweilig werden, dann bleiben immer noch die lustvollen Wanderungen durch Regalreihen alter und neuer Konsumpaläste. Zummweg kennt sich aus, geht sicher und zielstrebig, so daß man von ihr geleitet schnell vergessen hat, daß man selbst noch, zu Zeiten als die Bäume reichlich Blätter trugen, Blumen leuchteten und dufteten, das Lied der Vögel ins Herz drang und das Plätschern von Gebirgsbächen als Lockruf in Unergründlichkeiten wirkte, diese neue Welt nur notwendigerweise und widerwillig sowie tollpatschig zu durchstreifen vermochte.
Der Blick in den Spiegel zeigt Veränderungen und Zummweg trägt dafür Sorge, daß sie stets in harmonischer Äußerlichkeit mit der Vielfalt kaufbarer Möglichkeiten Schritt halten. Wir finden uns immer mehr vor dem Spiegel ein. Mal näher, mal ferner. Mal Ausschnitt, mal Ganzheit.
Ganzheit! Ganzheit? Wir treten näher. Noch näher. Pupille dringt in Pupille. Trotz winterlicher Kahlheit sticht der Gedanke durch und durch: Wir wollen keine Geschenke vor dem Essen auspacken, wir wollen nicht mehr verliebt sein. Die Pupille aus dem Spiegel tritt näher und näher. Sie leuchtet immer schärfer. Die Pupillen verschwinden ineinander. Die Stirne spürt die ruhigende Kühle des Spiegelglases. Die Ruhe vor dem Sturm - wir haben ein neues Problem.
Zyklen
So ist das Leben nun einmal - ein Zyklus immer wiederkehrender Auffälligkeiten
Fernsehen greift immer mehr um sich, schädigt Phantasie, Zusammenleben, Entwicklung - und vor allem Kinder. So heißt es allenthalben. Die Auffassung wird seltsamerweise auch von jenen geteilt, die - ironischerweise - sich diesem Medium haltlos aussetzen.
Wir wissen das alles und haben konsequenterweise dieses vermaledeite Gerät aus der eigenen Einflußsphäre verbannt. Zwar fehlen uns letzte Beweise dieser angeblichen Schädlichkeit. Dennoch haben wir dieses Ausgeliefertsein zumindest am eigenen Leibe erfahren. Diese Haltlosigkeit, diese Undiszipliniertheit gegenüber dem Ausknopf...
Hier galt es zu handeln. Zweimal im bislang nicht unbedeutend langem Leben mußte der Apparat gehen. Das zweite Mal wohl für immer. Vorbei die Möglichkeiten, der Seuche zu entgehen, indem man sie in den Oberstock verstieß, sie einem ungeheizten Zimmer anvertraute, dies alles in der Hoffnung, den Fernsehkonsum auf Wesentliches zu beschränken. Die Ungemütlichkeit als Züchtigungshilfe. Hat jedoch alles nichts geholfen. Vielmehr wurde es im Schlafsack vor der Glotze bei zunehmender Umgebungskälte gemütlicher - und länger...
Zweimal das Gefühl drohender Entzugserscheinungen. Wie es nun wohl so sein würde, so ganz ohne Television innerhalb der vier Wände. Es kam jedoch gänzlich anders: der Kasten fehlte keine einzige Sekunde. Dies warf existentielle Fragen auf: wie kann man so haltlos abhängig sein und dann von einer Sekunde auf die andere kein Gefühl des Schmerzes, der Trennung, der Leere, der Einsamkeit empfinden.
Welche Rolle spielte dieses zivilisatorische Monstrum mit nachgewiesenen tyrannischen Dimensionen, wenn es dann nicht mehr vermißt wird?
Die mitleidigen Blicke in der Folge der Frage "Was machen Sie denn, wenn sie gar keinen Fernseher haben?" wirken im Nachhinein dumpf, blöde und einfallslos, wenn da nicht die Erinnerung an Zeiten williger Unterwerfung wäre.
Ist es die wiedergewonne Möglichkeit, sich dem wirklichen Fernsehen zuzuwenden, indem zuerst das Nahsehen praktiziert wird: der große Bildschirm der unmittelbaren Beobachtung, des direkten Erlebens, die Freuden und der Ekel vielfältiger Berührungen? Die Freiheit der anschließenden Schlußfolgerungen im guten wie im schlechten?
"So ist das Leben!" als Seufzer gelebter Bildschirmidylle, Poliglotterie (natürlich ergänzt durch organisierte Fernreisen) und vermeintlichen Dabeiseins (natürlich ergänzt durch massenherdenhaftes Getrampel im Zuge neudeutscher "outdoor" Seinsweisen) soll uns abhanden kommen!
Statt dessen rufen wir nun fröhlich (nicht weil wir vieles für so schön, gut und geil halten möchten -das überlassen wir schön unseren neuen Bewußtseinsapostel und Apostelinnen) in erlebten Daseins- und Beobachtungsdrang aus: So ist das Leben nun einmal! Das können wir, weil wir uns wirklich hineinwerfen in dieses wurmhafte Getümmel, ungetrennt von diesem Schauspiel durch Mattscheibengeborgenheit und warmen Wohnzimmermief.
Daher also nur die Fröhlichkeit, die wir keinesfalls in naive Freude über nicht vorhandene Freudensanlässe ausufern lassen werden.
Alltag wie er leibt und lebt, wollen wir erfahren. Sicherlich dabei auch die Kunst ausformen, vielen Alltäglichkeiten dann sehr bewußt auszuweichen, zu entkommen. Es wäre ja wirklich allzu naiv, zu glauben, daß der Verzicht auf die Flimmerinformation allein bereits zu glückseligmachender Sehschärfe führe. Wir wollen gar nicht die eine Lüge mit einer anderen ersetzen. Schlicht dem wirklichen Leben hingeben: das ist es, was unser Ziel ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir suchen den Sinnen und Gefühlen einen Weg, auf dem sie wieder kindlich spielen, ausprobieren mögen. Auf dem gesteckte Grenzen noch elastisch sind, ausweitbar, sprengbar.
Fröhlichkeit meint hier nicht das Einstimmen in rhythmisches Kollektivgeklatsche und Fußgetrampele: dieses tumbe Dabeisein-ist-alles Gefühl, sondern schlicht Offenheit für jedwede Form der Wahrnehmung.
Bei diesem Ausflug in Begleitung der Fröhlichkeit des Geistes und Gemütes wollen wir jedoch ganz besonders bedachtsam sein: denn der Mattscheiben sind gar viele...
Und vor allem wollen wir hoffen, daß wir den Zyklus ein für allemal durchbrochen haben! Wir bekennen uns fest und aufrichtig sowie mannhaft zum für viele sicherlich beschämenden Bekenntnis: wir haben keinen Fernsehapparat!
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